Sie sah, wie die Zofe ihre hochwohlgeborene Schutzbefohlene besorgt und misstrauisch musterte. Ista erwiderte die Blicke kalt. Schließlich machte die Zofe einen Knicks. »Sofort, Herrin. Ich werde einem der Mädchen Bescheid geben. Ich bin gleich wieder zurück.«
Davon gehe ich aus. Ista wartete gerade so lange, bis die Zofe um die Ecke des Bergfrieds verschwand. Dann hielt sie rasch auf die Seitenpforte zu.
Dort ließ die Wache soeben den Dienstboten und seinen Esel ein. Hoch erhobenen Hauptes schritt Ista an ihnen vorbei, ohne sich noch einmal umzublicken. Hinter ihr ließ der Posten ein unsicheres »Majestät …?« vernehmen, doch Ista gab vor, nichts zu hören, und marschierte forsch den immer steileren Pfad hinab. Im Vorübergehen verfingen sich Gestrüpp und Sträucher im nachschleifenden Saum ihrer Röcke und in ihrer bauschenden, schwarzsamtenen Marlotte. Sie griffen nach ihr wie Hände, die sie zurückzuhalten wollten. Als sie unter den ersten Bäumen außer Sicht war, schritt Ista schneller aus, bis sie fast rannte. Als kleines Mädchen war sie auf diesem Weg häufiger hinunter zum Fluss gelaufen. Bevor sie irgendjemandes irgendetwas wurde.
Als sie schließlich Wasser zwischen dem Bewuchs hindurchschimmern sah, war sie erschöpft und zitterte. Sie bog ab und wanderte am Ufer entlang. Der Weg verlief immer noch so, wie sie es in Erinnerung hatte, und führte zu dem alten Steg, über den Fluss hinweg und dann wieder aufwärts bis zu einer der Hauptstraßen, die sich um den Hügel herum nach Valenda wanden — oder fort von der Stadt.
Die Straße war schlammig und von Hufspuren zernarbt; vielleicht war eben erst die Reisegruppe ihres Bruders hier durchgekommen, auf dem Weg zur Residenz in Taryoon. Während der beiden vorangegangenen Wochen hatte der Herzog beinahe unablässig versucht, Ista zur Mitreise zu bewegen. Er hatte ihr Zimmer und Zofen in seinem Palast versprochen, unter seiner wohl wollenden und fürsorglichen Aufsicht — als hätte sie hier nicht Zimmer und Zofen und aufdringliche Aufmerksamkeit genug. Sie wandte sich in die entgegengesetzte Richtung.
Trauerkleider und seidene Pantoffeln waren nicht die geeignete Garderobe für die Landstraße. Die Röcke rauschten um ihre Beine, als ging sie durch tiefes Wasser, und Schlamm saugte sich am leichten Schuhwerk fest. Die Sonne stieg immer höher, und die Wärme staute sich im dicken Samt auf Istas Rücken, bis sie schließlich ganz undamenhaft schwitzte. Sie fühlte sich immer unwohler, kam sich immer närrischer vor. Was für eine Verrücktheit! Genau das richtige Verhalten, um in einem Turm eingesperrt zu werden, in der Gesellschaft geistloser Zofen. Hatte sie davon nicht für ihr Lebtag genug gehabt? Sie besaß keine Kleidung zum Wechseln, keine Pläne und kein Geld, nicht einmal einen Kupfer-Vaida. Sie tastete nach den Edelsteinen an ihrer Halskette. Das war Geld. Ja, und viel zu viel. Wie sollte sie in einer Kleinstadt einen Geldwechsler finden, der einen solchen Wert in Münzen auszahlen könnte? Diese Edelsteine waren keine Reisekasse; sie waren eher eine lockende Beute für Straßenräuber.
Sie hörte, wie ein Karren sich näherte und blickte von den Pfützen zu ihren Füßen auf, zwischen denen sie sich ihren Weg suchte. Ein Bauer lenkte einen stämmigen Ackergaul und fuhr eine Ladung gut abgelagerten Dung zu seinen Feldern. Jetzt starrte er verblüfft auf die Erscheinung, die ihm hier auf der Straße entgegenkam. Ista erwiderte seinen Blick mit einem majestätischen Kopfnicken — was sonst blieb ihr übrig? Fast hätte sie laut aufgelacht, unterdrückte jedoch die unziemliche Lautäußerung und ging weiter. Sie blickte nicht zurück. Sie wagte es nicht.
Noch mehr als eine Stunde lang wanderte sie weiter und zerrte die ganze Zeit die Schleppe ihrer schweren Kleider hinter sich her, bis ihre Beine schließlich zu geschwächt waren und sie zittrig stehen blieb. Sie hätte weinen können vor Enttäuschung. Es geht einfach nicht. Ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Ich habe es nie gelernt, und jetzt bin ich zu alt dafür.
Wieder hörte sie Hufschlag, galoppierende Pferde und einen Ruf. Blitzartig kam Ista zu Bewusstsein, dass ihr nicht nur jegliche Ausstattung für die Reise fehlte, sondern auch eine Waffe zur Verteidigung. Sie besaß nicht einmal ein Messer. Doch als sie daran dachte, sich gegen einen Angreifer zur Wehr zu setzen, egal mit welcher Waffe, schnaubte sie verächtlich. Es wäre ein kurzer Auftritt, nicht wert, auch nur einen Gedanken an daran zu verschwenden.
Sie blickte über die Schulter zurück und seufzte erleichtert. Ser dy Ferrej und ein Reitknecht eilten mit hämmernden Hufen hinter ihr die Straße entlang, dass der Schlamm nach allen Seiten spritzte. Immerhin, dachte sie, war sie noch nicht dumm oder verrückt genug, sich zu wünschen, es wären Räuber gewesen. Genau da lag möglicherweise das Problem. Vielleicht war sie nicht verrückt genug, um ihre nicht minder verrückten Wünsche in die Tat umsetzen zu können … eine nutzlose Art von Irrsinns.
Dy Ferrej lenkte sein Pferd an ihre Seite. Als Ista sein gerötetes, verschwitztes und erschrockenes Gesicht sah, regte sich ihr schlechtes Gewissen. »Majestät!«, klagte er. »Was tut Ihr hier draußen?« Fast wäre er aus dem Sattel gefallen, so eifrig griff er nach ihren Händen und beugte sich zu ihr hinunter.
»Ich hatte die Enge der Burg satt und wollte einen Spaziergang im Freien machen, um in der Frühlingssonne ein wenig Trost zu finden.«
»Ihr seid fast fünf Meilen gelaufen, Majestät! Diese Straße ist nicht der rechte Ort für Euren Spaziergang …«
Allerdings. Und ich bin nicht der rechte Wanderer für diese Straße.
»Ohne Zofen, ohne Begleiter — bei allen fünf Göttern, denkt an Euren Rang und Eure Sicherheit! Und an meine grauen Haare! Ich hätte sie mir ausraufen können vor Sorge.«
»Dann muss ich Eure graue Haare um Verzeihung bitten«, sagte sie mit einer Spur aufrichtiger Reue. »Sie haben es nicht verdient, sich meiner Launen wegen grämen zu müssen. Und der Rest von Euch verdient es ebenso wenig, mein lieber dy Ferrej. Ich wollte einfach nur ein bisschen spazieren gehen.«
»Dann lasst es mich beim nächsten Mal wissen, und ich werde alles vorbereiten.«
»Ich wollte alleine sein.«
»Ihr seid die Königinwitwe von Chalion«, sagte dy Ferrej mit Nachdruck. »Ihr seid die Mutter von Königin Iselle, bei den fünf Göttern! Ihr könnt nicht einfach über die Landstraße streunen wie ein Bauernweib.«
Sie seufzte bei der Vorstellung, ein Bauernweib zu sein und nicht mehr die geplagte, gepeinigte Ista. Obwohl sie nicht daran zweifelte, dass auch Bauernweiber schlimme Schicksalsschläge erlitten und dabei viel weniger Anteilnahme erfuhren als sie. Doch es führte zu nichts, wenn sie mit dy Ferrej mitten auf der Straße darüber diskutierte. Der Reitknecht stieg ab, und Ista ließ sich auf den Pferderücken helfen. Ihre Kleider waren nicht zum Reiten gedacht und bauschten sich störend um ihre Beine, während sie mit den Füßen nach den Steigbügeln suchte. Als der Reitknecht die Zügel ergriff und Anstalten machte, ihr Pferd zu führen, blickte sie erneut missmutig drein.
Dy Ferrej beugte sich über den Sattelbaum nach vorn und umfasste tröstend ihre Hände, als er die Tränen in ihren Augen bemerkte. »Ich weiß ja«, murmelte er verständnisvoll. »Der Tod Eurer Frau Mutter war für uns alle ein großer Verlust.«
Ich habe schon vor Wochen aufgehört, Tränen um sie zu vergießen, dy Ferrej.
Vor langer Zeit hatte sie einen Eid abgelegt, nie wieder um etwas zu weinen oder zu beten. Doch während jener letzten schrecklichen Tage am Krankenbett ihrer Mutter hatten sie beide Schwüre gebrochen. Dann aber hatten sowohl Tränen wie auch Gebete ihren Sinn verloren. Ista beschloss, dem Majordomus weitere Sorgen zu ersparen und ihn nicht wissen zu lassen, dass sie um ihr eigenes Schicksal weinte, und nicht vor Kummer, sondern eher vor Zorn. Sollte er ruhig annehmen, dass sie vor Trauer außer sich war; die Trauerzeit ging vorbei.