Die Brüder dy Gura und ihre Pferde wurden der Gastlichkeit der Burg und ihrer Ställe zugeführt, und dy Ferrej machte sich eilig an die Umsetzung seiner selbst auferlegten Aufgaben. Istas Zofe plapperte sogleich von den Schwierigkeiten, welche die Auswahl der Kleidung für eine solch mühsame Reise mit sich brachte. Es hörte sich an, als hätte Ista eine Fahrt über die Berge nach Darthaca im Sinn, oder noch weiter, und nicht nur einen frommen Spaziergang quer durch Baocia. Ista zog in Erwägung, Kopfschmerz vorzutäuschen und sie so zum Schweigen zu bringen. Das aber konnte ihren Reiseplänen eher schaden, und so biss sie die Zähne zusammen und ließ das Geschwätz über sich ergehen.
Am späten Nachmittag schnatterte die Frau noch immer und verbreitete unablässig neue Sorgen. Drei Dienstmädchen im Gefolge, huschte sie durch Istas Gemächer im alten Bergfried, stellte Dutzende Kleider und festliche Gewänder zusammen, Mäntel und Schuhe, sortierte alles wieder um und wog die Bedürfnisse von Istas Trauerzeit, die selbstverständlich passende Farben vorschrieb, gegen die Erfordernisse jeglicher möglicher oder unmöglicher Eventualität ab. Ista saß auf einem Platz vor dem Fenster, mit Blick auf den Vorhof, und ließ den Wortschwall an sich vorüberplätschern wie das Wasser aus einer Traufe. Allmählich bekam sie wirklich Kopfschmerzen.
Geräusche und geschäftiges Treiben vom Tor her kündigten einen weiteren Besucher außer der Reihe an. Ista beugte sich vor und schaute durch die Fensterflügel. Ein großes, kastanienbraunes Pferd kam mit klappernden Hufen durch den Torbogen. Über seiner abgenutzten Kleidung trug der Reiter einen Wappenrock, auf dem eine Burg und ein Leopard zu sehen waren — das Emblem der Kanzlei von Chalion. Der Reiter schwang sich vom Pferd und wippte auf seinen — nein, ihren Zehen: Die Botin war eine junge Frau mit langem, schwarzem Haar, das zum Zopf geflochten über ihren Rücken hing. Sie zog ein Bündel hinter dem Sattel hervor und rollte es mit einem Schnappen auseinander. Ein Rock kam zum Vorschein. Wenig sittsam schlug sie ihren Überwurf hoch und wickelte das Kleidungsstück über der Hose um ihre schlanke Taille. Mit einem übermütigen Hüftschwung schüttelte sie den Saum bis auf Knöchelhöhe über die Stiefel.
Dy Ferrej kam heraus. Das Mädchen öffnete die Kanzleitasche und drehte sie um, sodass ein einzelner Brief herausfiel. Dy Ferrej las die Anschrift und riss das Schreiben an Ort und Stelle auf. Ista schloss daraus, dass es sich um ein persönliches Schreiben seiner geliebten Tochter handelte, Lady Betriz, einer Zofe am Hof der Königin Iselle. Seine Miene entspannte sich. Vielleicht waren es Neuigkeiten von seinem Enkel. Bekam er schon die ersten Zähne? Nun, Ista würde bald davon hören. Sie konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken.
Das Mädchen streckte sich, verstaute wieder ihre Tasche und betrachtete prüfend die Beine und Hufe ihres Reittiers. Dann übergab sie es dem Knecht mit einer Reihe von Anweisungen. Ista wurde sich bewusst, dass das Kammerfräulein ihr über die Schulter blickte.
Einer Eingebung folgend sagte Ista: »Ich möchte mit der Botin sprechen. Bringt sie zu mir.«
»Herrin, sie hatte nur diesen einen Brief.«
»Nun, dann muss sie mir die Neuigkeiten vom Hof wohl mündlich übermitteln.«
Die Zofe schnaubte. »So ein ungehobeltes Ding dürfte mit den Belangen der Hofdamen in Cardegoss wohl kaum vertraut sein.«
»Sei es, wie es sein mag. Bringt sie zu mir.«
Vielleicht lag es an ihrem scharfen Tonfall, jedenfalls machte die Frau sich auf den Weg.
Nach einer Weile erklangen feste Schritte vom Flur her, und der Geruch nach Pferden und Leder breitete sich in Istas Wohngemach aus und kündete von der Ankunft des Mädchens, noch bevor die missbilligende Stimme ihrer Zofe zu vernehmen war: »Majestät, hier ist die Botin, nach der Ihr verlangt habt.« Ista wandte sich auf dem im Mauerwerk eingelassenen Sitzplatz um und blickte auf. Sie bedeutete der Zofe mit einer Handbewegung, das Gemach zu verlassen; sie ging hinaus, nachdem sie vorher noch einmal abfällig die Stirn gerunzelt hatte.
Das Mädchen sah Ista neugierig, jedoch ein wenig eingeschüchtert an. Sie brachte eine ungeschickte Bewegung zustande, irgendetwas zwischen einer Verbeugung und einem Knicks. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein, Majestät?«
Das wusste Ista selbst kaum zu sagen. »Wie heißt du, Mädchen?«
»Liss, Majestät.« Nach einem Augenblick verlegenen Schweigens fügte sie hinzu: »Eine Abkürzung für Annaliss.«
»Woher kommst du?«
»Heute? Meine Botentasche habe ich in der …«
»Nein, überhaupt.«
»Nun, mein Vater besaß ein wenig Land in der Nähe der Stadt Teneret, im Herzogtum Labra. Dort züchtete er Pferde für den Ritterorden des Bruders, und Schafe für die Wolle. Das macht er immer noch, soweit ich weiß.«
Ein vermögender Mann. Es war also nicht Armut gewesen, die sie angetrieben hatte. »Weshalb bist du Kurier geworden?«
»Ich hatte vorher nie daran gedacht. Eines Tages aber ritt ich mit meiner Schwester in die Stadt, um ein paar Pferde am Tempel abzuliefern. Da sah ich ein Mädchen vorbeigaloppieren, das als Kurier für den Orden der Tochter unterwegs war.« Sie lächelte, als wäre es eine sehr erfreuliche Erinnerung. »Von diesem Moment an konnte ich an nichts anderes mehr denken.«
Vielleicht lag es daran, dass sie so überzeugt von ihrer Berufung war, vielleicht lag es aber auch an ihrer Jugend und ihrer Kraft: Das Mädchen war zwar überaus höflich, wirkte aber keineswegs scheu in Gegenwart der Königin. Ista nahm es mit Erleichterung zur Kenntnis. »Hast du denn keine Angst, wenn du so ganz allein auf den Straßen unterwegs bist?«
Sie schüttelte den Kopf so heftig, dass ihr Zopf hin und her schwang. »Ich reite jeder Gefahr davon. Bisher jedenfalls.«
Ista glaubte das gern. Das Mädchen war zwar größer als sie, aber immer noch kleiner und leichter als ein durchschnittlicher Mann — selbst als die drahtigen Burschen, die sonst bevorzugt für den Kurierdienst eingesetzt wurden. Ein Pferd würde ihr Gewicht kaum spüren. »Aber … aber ist es nicht unangenehm? Du musst bei Wind und Wetter reiten, bei Hitze, in der Kälte …«
»Ich bin doch nicht aus Zucker. Der Regen macht mir nichts. Und wenn es schneit, hält mich das Reiten warm. Wenn nötig, kann ich mich auch in meinen Mantel wickeln und unter einem Baum auf dem Boden schlafen. Oder auf dem Baum, wenn die Gegend unsicher aussieht. Obwohl die Pritschen in den Kurierstationen natürlich wärmer sind, nicht so ungemütlich.« Spöttisch kniff sie die Augen zusammen. »Nicht ganz so ungemütlich …«
Ista empfand eine gewisse Bewunderung für diese Tatkraft. »Wie lange bist du nun schon für die Kanzlei unterwegs?«
»Seit drei Jahren. Seit ich fünfzehn geworden bin.«
Was hatte Ista mit fünfzehn gemacht? Vermutlich hatte sie sich auf ihre Rolle als Ehefrau eines bedeutenden Fürsten vorbereitet. Als sie so alt war wie dieses Mädchen jetzt, war König Ias auf sie aufmerksam geworden, und damit hatten ihre Vorbereitungen sich in einem Maße ausgezahlt, wie ihre Familie es sich in den kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Nur war Ista von diesen Träumen in einen einzigen langen Albtraum geraten, als Ias’ uralter Fluch auch auf sie fiel. Ein Fluch, der inzwischen gebrochen war, dank der Gnade der Götter und der Taten von Lord dy Cazaril — gebrochen seit drei Jahren. An diesem Tag hatte ihr Geist sich aus dem erstickenden Nebel befreien können, in den der Fluch sie gehüllt hatte. Und die Mattigkeit, die ihr Leben umwob, und die Ausweglosigkeit ihres Daseins waren seither nur noch das Ergebnis langer Gewohnheit.