»Warum hat deine Familie dich so früh gehen lassen?«
Belustigung huschte über das Gesicht des Mädchens und erhellte ihre Züge wie Sonnenstrahlen, die durch grünes Blätterwerk stachen. »Wenn ich so darüber nachdenke … Ich fürchte beinahe, ich habe vergessen, vorher zu fragen.«
»Und der Postmeister hat dich einfach so aufgenommen, ohne die Erlaubnis deines Vaters?«
»Ich nehme an, auch er hat zu fragen vergessen. Damals hat er verzweifelt nach neuen Reitern gesucht. Ist schon erstaunlich, wie schnell die Regeln sich ändern, wenn man in einer Zwangslage steckt. Aber ich habe auch nicht erwartet, dass mein Vater oder meine Brüder den ganzen Weg hinter mir herlaufen und mich zurückschleifen. Schließlich hat er vier weitere Töchter, für deren Aussteuer er sorgen muss.«
»Hast du dich noch am selben Tag davongemacht?«, fragte Ista verblüfft.
Das breite Grinsen wurde noch breiter — auch ihre Zähne waren gesund, bemerkte Ista. »Natürlich! Ich hab mir gedacht, wenn ich jetzt wieder nach Hause gehe und noch einen einzigen Strang Garn spinnen muss, krieg ich einen Schreikrampf. Und meine Mutter hatte nie viel für mein Garn übrig. Sie meinte, es wäre zu knotig.«
Mit dieser Erklärung konnte Ista etwas anfangen. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. »Meine Tochter ist auch eine begeisterte Reiterin.«
»So erzählt man sich in ganz Chalion, Majestät.« Liss’ Augen leuchteten auf. »In einer einzigen Nacht von Valenda nach Taryoon, und dabei auch noch feindlichen Truppen ausweichen — so ein Abenteuer hatte ich noch nicht! Und auch noch nie solch einen Lohn.«
»Dann lass uns hoffen, dass nie wieder ein Krieg so nahe an Valenda herankommt. Wohin reitest du als Nächstes?«
Liss zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Erst einmal reite ich zurück zu meiner Kurierstation und warte darauf, dass der Postmeister mir die nächste Tasche in die Hand drückt. Dann sehe ich ja, wohin sie muss. Wenn Ser dy Ferrej gleich eine Antwort mitschickt, werde ich wohl etwas schneller unterwegs sein, ansonsten lass ich’s erst mal langsam angehen und gönne meinem Pferd ein bisschen Ruhe.«
»Heute Abend wird er kaum noch etwas schreiben …« Ista wollte nicht, dass das Mädchen fortging. Andererseits sah es ziemlich mitgenommen aus und war schmutzig von der Reise. Liss wollte sich bestimmt erst einmal waschen und sich erfrischen. »Wir sollten noch einmal miteinander sprechen, Liss aus Labra. In einer Stunde wird das Abendessen gereicht. Du wirst mir dort deine Aufwartung machen und an meiner Tafel speisen.«
Überrascht hob das Mädchen die dunklen Augenbrauen. Dann zeigte sie wieder die Mischung aus Hofknicks und Verbeugung. »Wie Ihr befehlt, Majestät.«
Die Speisetafel der alten Herzogin war gedeckt wie Tausende Male zuvor, wenn kein Feiertag die gewohnten Abläufe störte. Es war durchaus behaglich in dem kleinen Speisesaal im neuesten Gebäude der Burg, mit einem offenen Kamin und verglasten Fenstern.
Es war auch die gewohnte Gesellschaft zugegen: Lady dy Hueltar, eine ältliche Verwandte von Istas Mutter und deren langjährige Gesellschafterin; denn Ista selbst; ihre ranghöchsten Zofen sowie der ernste dy Ferrej. Nach stillschweigender Übereinkunft blieb der Stuhl der verstorbenen Herzogin frei. Ista hatte den Platz am Kopf der Tafel nicht beansprucht, und niemand hatte sie dazu gedrängt — vielleicht, weil man es als Ausdruck ihrer Trauer missdeutete.
Dy Ferrej traf ein und brachte Ferda und Foix mit, die beide überaus vornehm und sehr jung aussahen. Hinter ihnen kam die Botin herein und verbeugte sich höflich vor allen Anwesenden. Als sie der Königin allein gegenübergestanden hatte, war sie tapfer und entschlossen aufgetreten, doch der Speisesaal verströmte eine Atmosphäre gesetzten Alters, die selbst einem erfahrenen Veteranen Ehrfurcht eingeflößt hätte. Liss setzte sich steif auf ihren Stuhl und schien sich noch kleiner machen zu wollen, obwohl sie die beiden Brüder mit Interesse musterte. Der Geruch nach Pferd haftete nun nicht mehr so penetrant an ihr, obwohl Lady dy Hueltar immer noch die Nase rümpfte. Doch am Tisch gegenüber von Ista blieb noch immer ein Gedeck unbenutzt — und bestimmt nicht für die verstorbene Herzogin.
»Erwarten wir noch einen Gast?«, wollte Ista von dy Ferrej wissen.
Dieser räusperte sich und nickte der alten Lady dy Hueltar zu.
Auf deren runzligen Antlitz erschien ein Lächeln. »Ich habe beim Tempel in Valenda nach einer geeigneten Priesterin fragen lassen, die Euch auf der Fahrt als geistlicher Beistand zur Seite stehen kann, Majestät. Wenn wir schon nicht nach Cardegoss schicken und uns von dort einen Geistlichen kommen lassen, der mit den höfischen Gepflogenheiten vertraut ist, sollten wir zumindest nach einem geeigneten Ersatz Ausschau halten. Ich dachte an Hochwürden Tovia vom Orden der Mutter. Ihr Ruf als Theologin ist vielleicht nicht so bedeutend, doch sie ist eine ausgezeichnete Heilkundige, und sie kennt Euch von klein an. Es wäre gewiss eine Erleichterung, könnten wir auf jemand Vertrauten zurückgreifen, falls uns während der Reise irgendwelche fraulichen Beschwerden plagen, oder … oder wenn Eure früheren Probleme sich erneut einstellen. Und ich wüsste keinen, der Eurem Geschlecht und Rang angemessener wäre.«
Die Geistliche Tovia war eine Busenfreundin der verstorbenen Herzogin gewesen und war auch mit Lady dy Hueltar sehr gut bekannt; Ista konnte sich die drei gut auf einem gemütlichen Ausflug an einem sonnigen Frühlingstag vorstellen. Bei den Göttern, nahm Lady dy Hueltar etwa an, bei dieser Fahrt dabei zu sein? Ista unterdrückte das Bedürfnis, würdelos aufzuschreien — wie Liss bei dem Gedanken an das Garn.
»Ich wusste, Ihr würdet Euch freuen«, fuhr Lady dy Hueltar fort. »Und ich dachte mir, Ihr wolltet vielleicht schon während des Essens Eure Reiseroute mit ihr durchgehen.« Sie runzelte die Stirn. »Es sieht Tovia gar nicht ähnlich, sich zu verspäten.«
Ihre Stirn glättete sich wieder, als ein Dienstbote hereinkam und verkündete: »Der Gast aus dem Tempel ist eingetroffen, Herrin.«
»Ausgezeichnet. Führt sie sogleich herein.«
Der Diener öffnete den Mund, als wollte er noch etwas anmerken. Dann aber verbeugte er sich und verschwand.
Als die Tür erneut aufschwang, trat eine atemlose Gestalt hindurch, die unerwartet vertraut wirkte: Der übergewichtige junge Geistliche des Bastards, den Ista vor ungefähr zwei Wochen beim Pilgerzug gesehen hatte. Heute waren seine weißen Roben nur um Weniges sauberer — zwar frei von Straßenstaub, an Saum und Vorderseite aber mit Schmutzrändern gezeichnet. Abrupt blieb er stehen, als ihm auffiel, dass alle Anwesenden ihn anstarrten.
Sein Lächeln wurde unsicher. »Guten Abend, edle Damen, edle Herren. Ich wurde aufgefordert, der Lady dy Hueltar meine Aufwartung zu machen. Es ging um eine Pilgerreise, für die noch ein Geistlicher gesucht wurde …«
Lady dy Hueltar fand ihre Sprache wieder. »Ich bin Lady dy Hueltar. Soweit ich unterrichtet bin, wollte der Tempel eine Heilkundige der Mutter schicken, die Geistliche Tovia. Wer seid Ihr?«
Ista hörte deutlich heraus, dass Lady dy Hueltar nur mit größter Mühe eine unhöflichere Betonung der Frage unterdrücken konnte: Wer seid Ihr?
»Oh …« Er verneigte sich kurz. »Der Geistliche Chivar dy Cabon, zu Euren Diensten.«
Nun, immerhin konnte er mit einem angesehenen Namen aufwarten. Er blickte zu Ista und Ser dy Ferrej. Auch er erkannte sie wieder, stellte Ista fest, und war ebenso überrascht wie sie.
»Und wo ist Hochwürden Tovia?«, fragte Lady dy Hueltar verwundert.
»Soviel ich weiß, hat sie die Stadt verlassen. Ihre ärztlichen Fertigkeiten wurden verlangt, in einem schwierigen Fall in einiger Entfernung von Valenda.« Sein Lächeln wurde noch unsicherer.