»Dann heiße ich Euch willkommen, Hochwürden dy Cabon«, sagte Ista nachdrücklich.
Dy Ferrej erinnerte sich an seine Pflichten: »Ja. gewiss. Ich bin dy Ferrej, der Majordomus der Burg, und dies ist die Königinwitwe Ista …«
Dy Cabon kniff die Augen zusammen und musterte Ista eindringlich. »Tatsächlich …«, flüsterte er.
Dy Ferrej bekam nichts davon mit oder beachtete es nicht. In der Reihenfolge ihres Ranges stellte er die dy-Gura-Brüder sowie die anwesenden Damen vor, und zuletzt, ein wenig zögernd: »Liss, eine Botin der Kanzlei.«
Dy Cabon verbeugte sich gleichermaßen unbeschwert vor allen Anwesenden.
»Aber so geht das doch nicht … Da muss ein Irrtum vorliegen, Hochwürden«, fuhr Lady dy Hueltar fort und warf Ista einen flehenden Blick von der Seite zu. »Es ist die Königinwitwe persönlich, die zu einer Pilgerfahrt aufbrechen und die Götter um einen Enkel bitten möchte. Ihr seid nicht … das ist nicht … wir wissen nicht … ob ein Geistlicher aus der Kirche des Bastards, noch dazu ein Mann, tatsächlich die am besten geeignete, äh, Person …« Sie verstummte in der Hoffnung, dass jemand sie aus der Klemme befreite, in die sie selbst sich manövriert hatte.
Ista lächelte innerlich.
Weich wie Seide merkte sie an: »Irrtum oder nicht, es ist Zeit zum Abendessen. Wenn Ihr heute Abend unseren Tisch mit Eurer Gelehrsamkeit segnen würdet, Hochwürden, und unser Tischgebet anleiten wollt …?«
Seine Miene hellte sich auf. »Es wäre mir eine Ehre, Majestät.«
Ista wies ihm einen Stuhl an, und er setzte sich, lächelnd und blinzelnd. Erwartungsvoll schaute er zu dem Dienstboten, der ein Becken mit lavendelduftendem Wasser zum Händewaschen herumreichte. Mit wohlgesetzten Worten und wohlklingender Stimme segnete dy Cabon die Speisen. Was immer er sonst sein mochte, ein Bauerntrampel war er nicht. Dann machte er sich mit gesegnetem Appetit über die Mahlzeit her. Hätte der Koch der Herzogin es beobachten können — ihm wäre das Herz aufgegangen nach all den Jahren im Dienste gleichgültiger, älterer Herrschaften. Nur Foix konnte da ohne sichtbare Mühe mithalten.
»Seid Ihr ein Angehöriger jener Familie Cabon, die mit dem derzeitigen Großmeister des Ritterordens der Tochter verwandt ist, mit dy Yarrin?«, fragte Lady dy Hueltar höflich.
»Ich nehme an, ich bin so etwas wie ein Cousin dritten oder vierten Grades von ihm, verehrte Dame«, erwiderte der Geistliche, nachdem er einen weiteren Bissen verschlungen hatte. »Mein Vater war Ser Odlin dy Cabon.«
Die beiden dy-Gura-Brüder blickten interessiert auf.
»Oh«, warf Ista überrascht ein. »Ich glaube, ich bin ihm vor vielen Jahren am Hof von Cardegoss begegnet.« Unser fetter Cabon, hatte der König ihn leutselig genannt. Doch in der verhängnisvollen Schlacht von Dalus war er so tapfer gestorben wie jeder schlanke und ranke Edelmann. Ista zögerte einen Augenblick; dann fügte sie hinzu: »Ihr seht ihm ähnlich.«
Der Geistliche nickte in offensichtlicher Freude. »Das höre ich gern.«
Ein Anflug von Übermut bewog Ista, die Frage auszusprechen, die ganz gewiss keiner der anderen Anwesenden zu stellen wagte: »Seid Ihr ein Sohn der Lady dy Cabon?«
Der Geistliche zwinkerte ihr über das Fleischstück auf seiner Gabel hinweg zu. »Leider nein. Doch mein Vater fand trotzdem ein wenig Gefallen an mir und hinterlegte eine Stiftung bei der Kirche, als es an der Zeit für mich war, zur Schule zu gehen. Dafür war ich ihm später sehr dankbar. Meine Berufung für das geistliche Leben kam nicht eben mit der Heftigkeit eines Blitzschlags über mich. Sie entwickelte sich langsam, so wie ein Baum wächst.« Dy Cabons rundes Gesicht und seine geistlichen Gewänder ließen ihn älter aussehen, als er war. Er konnte kaum über dreißig sein; vielleicht war er sogar bedeutend jünger.
Zum ersten Mal seit langem drehten die Gespräche bei Tisch sich nicht nur um die verschiedensten Gebrechen alter Leute, um Schmerzen und Zipperlein und Verdauungsbeschwerden. Stattdessen ging es um die neuesten Entwicklungen in Chalion-Ibra. Die dy-Gura-Brüder wussten einiges über den erfolgreichen Feldzug des letzten Jahres zu berichten, in dessen Verlauf Marschall dy Palliar die Bergfestung Gotorget zurückerobert hatte, eine Schlüsselstellung an der Grenze zu den feindseligen Fürstentümern der Roknari im Norden, und über die hilfreiche Anwesenheit des jungen Prinzgemahls Bergon auf dem dortigen Schlachtfeld.
»Während des letzten Angriffs auf die Festung bekam Foix einen üblen Schlag mit einem Kriegshammer ab«, erklärte Ferda. »Den halben Winter hat er dann im Bett verbracht, anfangs mit gebrochenen Rippen, zu denen später eine Lungenentzündung kam. Als er wieder auf den Beinen war, hat Kanzler dy Cazaril ihn als Kanzleigehilfen beschäftigt, damit die Knochen in Ruhe zusammenwachsen konnten. Unser Vetter dy Palliar war der Ansicht, ein kleiner Ausflug zu Pferde würde ihm helfen, seine Form wieder zu finden.«
Eine leichte Röte zeigte sich auf Foix’ breitem Gesicht, und verlegen schaute er zu Boden. Liss musterte ihn ein wenig zweifelnd, doch ob sie ihn sich mit einem Schwert oder mit der Schreibfeder in der Hand vorzustellen versuchte, vermochte Ista nicht zu sagen.
Unweigerlich brachte Lady dy Hueltar wieder einmal zum Ausdruck, wie sehr sie es missbilligte, dass Königin Iselle selbst in den Norden gereist war, um ihrem Gemahl und den aufregenden Ereignissen nahe zu sein. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Iselle im Anschluss daran eine gesunde Tochter zur Welt gebracht hatte — vielleicht war es ja gerade deshalb eine Tochter geworden!
»Ich kann mir kaum vorstellen«, merkte Ista trocken an, »dass es ein Junge geworden wäre, wäre Iselle die ganze Zeit in Cardegoss und im Bett geblieben.«
Lady dy Hueltar murmelte undeutlich etwas vor sich hin. Ista erinnerte sich an die bissigen Bemerkungen ihrer eigenen Mutter, als sie vor vielen Jahren Iselle geboren hatte, eine Tochter König Ias’. Als ob sie irgendetwas hätte tun können, dass es anders gekommen wäre. Und als ob es irgendetwas gebracht hätte, dass sie dann auch noch einen Sohn zur Welt brachte … Sie runzelte die Stirn bei der Erinnerung an diesen alten Schmerz. Als sie aufschaute, fing sie dy Cabons Blick auf, der sie eindringlich musterte.
Der Geistliche lenkte das Gespräch rasch auf unverfänglichere Themen. Dy Ferrej genoss es, die eine oder andere alte Geschichte vor einem neuen Publikum wieder hervorkramen zu können, und Ista neidete es ihm nicht. Dy Cabon erzählte einen anzüglichen Witz, der jedoch harmloser war als so manches, was Ista am Tisch des Königs zu hören bekommen hatte. Das Kuriermädchen lachte laut auf, worauf Lady dy Hueltar ihr einen tadelnden Blick zuwarf. Liss legte sich erschrocken die Hand auf den Mund.
»Lach ruhig«, sagte Ista zur ihr. »In diesem Haus habe ich seit Wochen kein Lachen mehr gehört. Seit Monaten.« Seit Jahren.
Wie mochte ihre Pilgerfahrt verlaufen, wenn sie nicht eine Schar selbst ernannter Wachhunde hinter sich herschleppen musste, missmutig und zu alt für den Ritt über beschwerliche Straßen? Wenn sie stattdessen mit Menschen reisen konnte, die lachten und scherzten? Mit jungen Menschen, die nicht von Verlust und Schuld bedrückt wurden? Und wenn sie es wagen durfte, daran zu denken: mit Menschen, für die sie selbst die geachtete Älteste war und nicht das missratene Kind, das zurechtgewiesen werden musste. Wie Ihr befehlt, Majestät, und nicht: Ich bitte Euch, Lady Ista, Ihr könnt doch nicht …
»Dy Cabon«, sagte sie unvermittelt. »Ich möchte dem Tempel danken, dass er an mich gedacht hat, und ich würde mich freuen, wenn Ihr mir auf der Reise als geistlicher Beistand zur Seite steht.«
»Ich fühle mich geehrt, Majestät.« Dy Cabon verbeugte sich im Sitzen so tief, wie sein Bauch es zuließ. »Wann brechen wir auf?«
»Morgen«, kündigte Ista an.