XIV
Die Berditschewski-Etüde
Ein alter Bekannter
»WSr. Dolinin, Mtgl. Min.-rat d. Inn.« So stand es in krakeliger, kaum leserlicher Handschrift in der Spalte »Besucher«.
»Wirklicher Staatsrat Dolinin?«, brummte Matwej Benzionowitsch und zauste sich seinen rotgoldenen Haarschopf. »Dolinin?«
»Jawoll!«, bestätigte der Aufseher. »Seine Exzellenz war bei uns zur Inspektion. Gab uns die Ehre eines Gesprächs. Man muss die Gefängnisse unterteilen, hat er gesagt. Untersuchungsgefangene extra, Gewohnheitsverbrecher extra, Kleinkriminelle extra. Seine Exzellenz geruhte, sich für die Belegung der Anstalt zu interessieren. Da hab ich ihm gleich von dem Gendarmerieoffizier erzählt, dem Schrecken aller Räuber und Nihilisten. So weit kommt es, nicht wahr, wenn man kein Maß hat in seinem Leben. Seine Exzellenz wünschte den Gefangenen persönlich in Augenschein zu nehmen und geruhte eine volle Stunde mit Herrn Razewitsch zu parlieren.«
Hier brauchte man nicht groß zu theoretisieren, hier war alles sonnenklar, eins fügte sich zum andern – obwohl noch nicht ganz geklärt war, auf welche Art und Weise.
Lange wanderte Berditschewski anschließend durch die Straßen, ohne irgendetwas um sich herum wahrzunehmen. Allmählich klärte sich das Wirrwarr, die Tatsachen ordneten sich und stellten sich in Reih und Glied vor ihm auf.
Langsam, langsam, rief sich der Staatsanwalt immer wieder zur Ordnung. Keine übereilten Schlüsse, nur die nackten Fakten.
Die nackten Fakten waren diese:
Vor einem halben Jahr besucht eine »sehr hoch gestellte Persönlichkeit« den zahlungsunfähigen Schuldner Razewitsch im Gefängnis – allem Anschein nach ohne besondere Absichten, rein zufällig. Oder vielleicht doch nicht so zufällig? Nein, nein, Mutmaßungen lassen wir erst einmal beiseite.
Der von der Gesellschaft Verstoßene mit den Eigenschaften eines Wolfshundes weckt das Interesse des Reformators des polizeilichen Ermittlungssystems. Fragt sich nur – womit? Ist etwa Dolinin auch homosexuell? Aber der Häftling hätte vor dem hohen Petersburger Beamten wohl kaum seine speziellen Vorlieben so mir nichts, dir nichts offenbart. Das ist jedenfalls wenig wahrscheinlich. Sogar höchst unwahrscheinlich.
Aber eine Tatsache ist unbezweifelbar: Irgendwie hat er sein Interesse geweckt, und zwar in solchem Maße, dass die »Russische Industrie – und Handelsbank«, deren Haupt-Kontor sich übrigens in Petersburg befindet, drei Tage später eine Summe transferiert, mit der die Schuld des Häftlings vollständig gedeckt wird. Razewitsch kommt frei und ist bald darauf aus Shitomir verschwunden – für immer.
Fragen: Warum hat Dolinin das getan, und woher hatte er so viel Geld? Pelagia hat erzählt, er sei nicht adliger Abstammung, sondern habe sich durch sein Talent hochgearbeitet. Wenn dem so ist, kann er über keine großen Reichtümer verfügen.
Fakten, nur die Fakten, mahnte sich Berditschewski wieder.
Na gut. Was die fünf Monate nach Razewitschs Freikauf anbelangt, so klafft dort eine Lücke: Weder über die Aufenthaltsorte noch über die Tätigkeiten des verwegenen Gendarmen während dieser Zeit haben wir irgendwelche Informationen. Aber wir wissen, dass er am Abend des 1. April an Bord der »Stör« ist und dort den Bauern Scheluchin tötet, in der Annahme, es handele sich um den »Propheten« Manuila.
In derselben Nacht erscheint auch Dolinin auf dem Dampfer, der sich per Zufall in der nahe gelegenen Bezirksstadt aufhält, im Zuge einer routinemäßigen Inspektionsreise. Ein bemerkenswerter Zufall, vor allem wenn man es im Zusammenhang mit dem vorangegangenen Shitomirer Rendezvous sieht.
Der Wirkliche Staatsrat übernimmt persönlich die Leitung der Ermittlungen, der Mörder jedoch verschwindet auf geheimnisvolle Weise unerkannt vom Schiff. Und wer, fragt man jetzt, organisiert die Suche nach ihm? Derselbe Dolinin. Matwej Benzionowitsch erinnerte sich an Pelagias Schilderung der Abläufe: Der Untersuchungsführer selber begab sich in die Kabine des angeblichen Herrn Ostrolyshenski und berichtete anschließend, ihr Bewohner sei verschwunden. Dann erteilte er den Befehl, eine Wache vor der Kabinentür aufzustellen, die niemanden hinein – oder herauslassen sollte. Aber vielleicht saß ja der neue Shitomirer Bekannte des pfiffigen Untersuchungsführers die ganze Zeit dort drinnen? Das wäre doch das Einfachste gewesen. Und später brachte Dolinin ihn still und heimlich an Land, vielleicht während der Wachablösung oder sonst irgendwie. Für den Leiter der Ermittlung, dem alle gehorchen und vertrauen, eine Kleinigkeit.
Was geschah weiter?
Die ach so hoch gestellte Persönlichkeit aus Petersburg empfand auf einmal den unwiderstehlichen Wunsch, sich höchstpersönlich in ein gottverlassenes Dorf am Ende der Welt zu begeben, um die Leiche eines Hochstaplers in die Heimat zu geleiten. Sehr seltsam. Schwester Pelagia und alle anderen an der Ermittlung Beteiligten glaubten damals, dem Untersuchungsführer sei die trockene Verwaltungsarbeit langweilig geworden, und er sei überdies eben ein sehr gewissenhafter Mensch, der immer alles selber machen müsse. Die Expedition machte sich auf den Weg, den Mörder, der durch ein geheimnisvolles Band mit Dolinin in Verbindung blieb, immer im Schlepptau. Möglicherweise war Razewitsch sogar auf dem Lastkahn selber versteckt, vielleicht im Laderaum oder sonst wo. Anschließend marschierte er auf eigene Faust durch den Wald, wobei er sich die ganze Zeit in ihrer Nähe aufhielt. Als Pelagia einmal zufällig auf den Verfolger stieß, fing Dolinin auf einmal an, von irgendwelchen unheilvollen Waldwesen zu erzählen, und brachte damit die Nonne, die sonst sehr aufgeweckt ist, so geschickt durcheinander, dass sie keinen Verdacht schöpfte.
Und jetzt kommt das Wesentliche.
Als Dolinin die Identität des Ermordeten festgestellt hatte, reiste er sofort ab. Razewitsch jedoch blieb dort.
Wozu?
Völlig klar: um Pelagia zu töten. Aber warum hatte er das nicht schon viel früher getan? Zum Beispiel bei dieser unheimlichen Begegnung im Wald?
Matwej Benzionowitsch dachte eine Weile nach und fand auch auf diese Frage eine Antwort.
Weil er vorher nicht den Befehl dazu erhalten hatte. Das heißt, der Befehl, die Nonne zu töten, wurde erst nach der Abreise des Untersuchungsführers erteilt.
Von wem?
Natürlich von Dolinin, von wem sonst?
Berditschewski hatte längst vergessen, dass er doch eigentlich keine voreiligen Schlüsse ziehen wollte, und entwarf hemmungslos eine Hypothese nach der anderen – die übrigens, nebenbei bemerkt, alle Hand und Fuß besaßen.
Möglicherweise wollte der Untersuchungsführer nicht in der Nähe sein, wenn Pelagia getötet wurde, sei es, um sich mit einem Alibi zu versehen, sei es aus Sentimentalität – damit er nicht dabei zuschauen musste.
Wahrscheinlicher war jedoch etwas anderes: Vielleicht hatte Pelagia in Stroganowka irgendetwas gesagt oder getan, woraus Dolinin schloss, dass sie kurz vor der Aufklärung des Mordes auf dem Dampfer stand. Das konnte sogar der eigentliche Grund gewesen sein, weshalb sie der Untersuchungsführer unbedingt auf diese Expedition hatte mitnehmen wollen, um nämlich während der Fahrt herauszufinden, wie gefährlich sie eigentlich war. Und unterwegs wurde ihm dann klar, dass sie ausgeschaltet werden musste.
Ganz nebenbei fand sich im Verlaufe dieser Deduktionen auch die Antwort auf die erste der bisher noch ungeklärten Fragen. Dolinin brauchte den von der Gesellschaft Verstoßenen mit den Eigenschaften eines Wolfshundes: Erstens, weil er ein von der Gesellschaft Verstoßener war, und zweitens, weil er ein Wolfshund war, also ein Spezialist für geheime Aufträge. Mit Homosexualität hatte das alles wahrscheinlich nicht das Geringste zu tun. Sehr gut möglich, dass der Petersburger davon gar nichts wusste. Aber spielte das überhaupt eine Rolle?
Jetzt zur nächsten der ungeklärten Fragen: War Dolinins Besuch in der Zelle Nummer elf des Gouvernements-Gefängnisses, der »Adelszelle« nun Zufall oder nicht? Oder dienten ihm vielleicht seine Inspektionsreisen durch das Reich, um ganz gezielt Leute ausfindig zu machen, die ihm für irgendwelche Zwecke nützlich sein konnten? Das war natürlich nur eine Mutmaßung, eine reine Mutmaßung, aber doch eine ziemlich wahrscheinliche.