Es war, als sei in Matwej Benzionowitschs Kopf eine Art Damm gebrochen: Die Gedanken, Vermutungen und Erleuchtungen ergossen sich mit solcher Gewalt, dass der Staatsanwalt unter dieser Flutwelle förmlich nach Luft schnappte.
Aber da tauchte schon ein neues Hindernis auf, das noch massiver war als das vorhergehende, und davor stauten sich die Wasser und brodelten und tosten.
Wer war der Wirkliche Staatsrat Dolinin tatsächlich?
Berditschewski rief sich alles, was er von Pelagia oder aus anderen Quellen über diese Person wusste, in Erinnerung.
Dolinin hatte viele Jahre als Untersuchungsführer bei der Strafkammer gedient. Dann hatte es ein Familiendrama gegeben, anscheinend hatte ihn seine Frau verlassen. Darüber erzählte Pelagia mit großer Anteilnahme, sie kannte wohl auch irgendwelche Einzelheiten, behielt sie jedoch für sich. Sie berichtete Matwej Benzionowitsch nur, der verlassene Ehemann sei vollkommen verzweifelt gewesen, sei aber dann einem weisen und guten Menschen begegnet, der ihn zurück zu Gott gebracht und vor selbstzerstörerischen Gedanken gerettet habe. In dieser Zeit ereignete sich auch Dolinins Karrieredurchbruch, er wurde weit nach oben katapultiert und konnte über die Beschäftigung mit wichtigen Staatsangelegenheiten seinen privaten Kummer glücklich vergessen.
Damit stellten sich einige weitere Fragen.
Erstens: Wer war dieser Weise, der die verirrte Seele des Untersuchungsführers rettete?
Zweitens: Schöne Seelenrettung, wenn man anschließend einen professionellen Mörder dingt.
Drittens: War es ein Zufall, das Dolinins »Verklärung« und der steile Anstieg seiner Karriere sich zum selben Zeitpunkt ereigneten?
Schließlich viertens, der wichtigste Punkt: Welche Motive trieben Dolinin? Oder welche Personen? Welches Ziel stand hinter allem?
Der Kopf schwirrte ihm. Aber eines war klar – in Shitomir gab es nichts mehr zu tun. Es gab einen stärkeren Magneten, um noch einmal Prinz Hamlet zu bemühen.
Der amerikanische Spion
Matwej Benzionowitsch stieg am Zarskoje-Selo-Bahnhof aus dem Zug und begab sich unverzüglich auf das Petersburger Hauptpostamt, um zu sehen, ob irgendwelche Nachrichten von Bischof Mitrofani eingetroffen waren. Der Staatsanwalt hatte von Shitomir aus einen kurzen Bericht an Seine Eminenz geschickt, ohne jedoch auf Einzelheiten einzugehen – aus Gründen der Diskretion. Aus demselben Grunde vermied er es auch, Dolinins Namen überhaupt zu erwähnen. Er berichtete lediglich, dass er die Spur »des Eurer Eminenz bekannten Falles« in der Hauptstadt des Reiches weiterverfolge.
Ein Brief war aus Sawolshsk nicht gekommen, aber dafür erwartete den Staatsrat eine Geldüberweisung in Höhe von fünfhundert Rubel, versehen mit einer kurzen Begleitnotiz: »Gott schütze dich.«
Was für ein Prachtkerl, unser Bischof. Kein überflüssiges Wort, nur das, was Berditschewski im Augenblick am nötigsten brauchte: Geld und Segenswünsche.
Von einem ehemaligen Kommilitonen, der jetzt im Innenministerium diente, erfuhr der Staatsanwalt, dass Sergej Sergejewitsch Dolinin an diesem Abend von seiner Inspektionsreise durch die Gouvernements am Unterlauf der Wolga zurückkehren wolle und morgen früh in seiner Dienststelle erwartet werde. Das kam ihm sehr gelegen. Wollen doch mal sehen, wohin er sich nach seiner Ankunft als Erstes begibt, dachte Matwej Benzionowitsch. Er fuhr zum Nikolajewski-Bahnhof und ersah aus den Fahrplänen, dass der Zug um halb zwölf Uhr nachts ankommen sollte.
Also hatte er den ganzen Tag für sich.
Berditschewski hatte als Student mehrere Jahre in Petersburg verbracht und kannte diese schöne, kalte Stadt recht gut. Aus der Perspektive eines Menschen aus der Provinz gesehen, wurde das Erscheinungsbild der Hauptstadt von der Überfülle an Amtsgebäuden ein wenig verdorben; deren weiß-gelbe Farbtöne erdrückten und überdeckten die wahren Farben der Stadt, das Grau und das Blau. Könnte man all die Ministerien und Ämter entfernen, überlegte Matwej Benzionowitsch, würde Petersburg sanfter und freundlicher, es wäre um vieles wohnlicher für die Menschen, die hier leben. Aber davon abgesehen, was war das auch für ein seltsamer Einfall, die Hauptstadt hierher, an den äußersten Rand dieses gigantischen Reiches, zu verlegen? Wie eine schlimme Backe, von der ganz Russland Schlagseite bekam. Man sollte die Staatsmacht lieber weiter im Osten lokalisieren, aber nicht in Moskau, das kam schon allein zurecht, sondern vielleicht in Ufa oder Jekaterinburg. Dann würde das Staatsschiff seine Schlagseite loswerden und nicht mehr ständig Wasser über die Reling nehmen.
Übrigens wäre es verfehlt zu sagen, Matwej Benzionowitsch hätte während seines Spaziergangs nichts anderes getan, als solch monumentalen Gedanken nachzuhängen.
Die Mittagszeit verbrachte er im Gostini Dwor, wo er Geschenke für Frau und Kinder kaufte. Damit hatte er mehrere Stunden zu tun, denn das war eine aufwändige und verantwortungsvolle Angelegenheit. Um Gottes willen nicht vergessen, dass Anitschka Grün nicht leiden kann, dass Wanjuscha außer einer Spielzeuglokomotive nichts akzeptiert, Maschenka von Wolle immer niesen muss und so weiter und so weiter.
Als er diese zwar angenehme, aber auch sehr ermüdende Beschäftigung hinter sich hatte, bereitete sich Berditschewski ein kleines Fest: Er schlenderte an den Verkaufsständen entlang und stellte sich vor, was für ein Mitbringsel er wohl für Pelagia kaufen würde, wäre sie keine Nonne und hätte es ihre Beziehung erlaubt, ihr Geschenke zu offerieren. Seine unerfüllbaren Träume trieben den Staatsrat unaufhaltsam zu den Parfümerien, schoben ihn weiter zu den Galanteriewaren, und erst in der Dessous-Abteilung kam er zur Besinnung. Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln und trat eilig auf die Straße, um sich in der feuchten baltischen Brise abzukühlen.
Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Es war Zeit, sich auf Dolinins Ankunft vorzubereiten.
Laut Adressbuch wohnte das bewusste Mitglied des Ministerrates im Hause Scholz am Sagorodni-Prospekt. Matwej Benzionowitsch sah sich das Gebäude an (ein gewöhnliches Mietshaus mit drei Etagen, die Wohnung des Generals im ersten Stock) und zählte nach, welches Dolinins Fenster sein mussten.
Dann nahm er ein Zimmer im Logierhaus »Helsingfors«, das äußerst günstig, nämlich fast genau gegenüber, gelegen war.
Langsam wurde es dunkel. Zeit, zum Nikolajewski-Bahnhof zu fahren.
***
Mit der Droschke hatte er ausnehmend Glück. Nummer 48-36 war ein aufgeweckter junger Bursche. Als er begriffen hatte, was man von ihm wollte, begannen seine Augen zu leuchten, und er vergaß sogar, um den Fahrpreis zu feilschen.
Der Zug aus Moskau war pünktlich. Der Staatsanwalt war Dolinin in Sawolshsk schon einmal begegnet, er hatte sogar mit ihm gesprochen. Deshalb nahm er vorsorglich hinter einem Zeitungskiosk Deckung, wartete, bis Sergej Sergejewitsch an ihm vorbeigegangen war, und heftete sich ihm an die Fersen.
Leider kam niemand, um den Wirklichen Staatsrat abzuholen. Berditschewski hatte sich in seiner Fantasie schon eine geheimnisvolle Kutsche ausgemalt, und eine Hand, die ihm die Tür aufhielt. Natürlich nicht irgendeine Hand, sondern eine mit einem außergewöhnlichen Ring am kleinen Finger, und dazu der Ärmel einer Uniform mit Goldstickerei.
Aber nichts dergleichen, weder Hand noch Kutsche. Dolinin nahm bescheiden eine Droschke, stellte seine unansehnliche Reisetasche neben sich, und weg war er.
Nummer 48-36 hatte kapiert. Als er sah, dass Berditschewski angelaufen kam, fuhr er schon los. Der Staatsanwalt sprang während der Fahrt auf und flüsterte nur: Nicht zu dicht, nicht zu dicht. Der Kutscher hielt einen idealen Abstand von etwa hundert Schritt, ließ zwei, drei Equipagen zwischen sich und den Verfolgten, aber nicht mehr, damit er ihn nicht aus den Augen verlor.