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Dolinins Droschke fuhr nicht auf den Newski-Prospekt, sondern schwenkte in die Ligowskaja-Straße ein. Anscheinend will er nach Hause, dachte Matwej Benzionowitsch enttäuscht. So war es auch, der Inspektor bog in die Swenigorodskaja ab.

Vor dem Haus Scholz hieß es erst einmal warten.

In den Fenstern von Dolinins Wohnung ging das Licht an, dann erlosch es wieder. Nur ein einziges Fenster blieb erleuchtet. Ging er zu Bett, schrieb er einen Bericht? Oder kleidete er sich etwa um, um mitten in der Nacht noch irgendwohin zu fahren?

Der Staatsanwalt war sich unschlüssig. Sollte er jetzt die ganze Nacht hier herumstehen?

Wenigstens solange noch Licht brannte, wollte er abwarten. Wer weiß, vielleicht erwartete Dolinin ja noch einen späten Besucher!

Aber das einsame Licht leuchtete noch genau zweiundvierzig Minuten und verlosch dann.

Anscheinend hatte er sich doch zu Bett begeben.

»Wer ist das, ein Spiejon?«, fragte der Kutscher mit verschwörerisch gedämpfter Stimme.

Berditschewski nickte zerstreut und überlegte, ob er nicht am besten gleich in der Kutsche sein Nachtlager aufschlagen sollte.

»Ein merikanischer?«, bohrte Nummer 48-36 nach.

»Warum ein amerikanischer?«, wunderte sich der Staatsanwalt.

Statt einer Antwort zog der Bursche nur die Nase hoch. Weiß der Teufel, was für ein Unkraut da in seinem Kopf wucherte, und warum er dem vermeintlichen Feind der Heimat ausgerechnet eine so exotische Staatsangehörigkeit andichtete.

»Nein, ein österreichisch-ungarischer«, entgegnete Matwej Benzionowitsch. Das schien ihm immerhin glaubwürdiger.

Der Kutscher nickte.

»Wenn Euer Wohlgeboren wünschen, kann ich hier Wache stehen, und wenn es die ganze Nacht ist. Wir sind das gewohnt, der entgeht uns nicht. Ehrlich! Hafer habe ich im Futtersack dabei. Und ich bin nicht teuer. Drei Rubelchen. Oder zwei und ein Fuffzjer, ja?«

Man sah ihm an, wie schrecklich gern er diesem österreichi-sehen Spion auflauern würde. Und so schlecht war die Idee gar nicht – zumal der Preis durchaus zivil!

»Na gut. Ich bin dort in diesem Logierhaus. Siehst du das Fenster? Das Eckfenster im ersten Stock? Wenn er weggeht, oder wenn irgendjemand zu ihm kommt, gib mir sofort Bescheid! Auch wenn nur das Licht angeht.« Berditschewski dachte einen Moment nach. »Bloß wie?«

»Ich kann pfeifen«, schlug 48-36 vor. »Ich pfeife wie ein Kutscher.«

Er steckte die Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. Die Pferde machten vor Schreck einen Knicks, aus dem »Helsingfors« kam der Kopf des Portiers zum Vorschein, und von zwei Seiten antworteten die Pfiffe der Schutzleute.

»Nein, lieber nicht«, sagte der Staatsanwalt, drückte sich in die Sitze und schaute ängstlich auf Dolinins Fenster, ob sich da nicht vielleicht der Vorhang bewegte. »Wirf lieber ein Sternchen ans Fenster.«

Berditschewski legte sich in Schuhen und Kleidern aufs Bett und schlürfte ein wenig von dem Mosel, den er im Gostini Dvor gekauft hatte – aus der Flasche natürlich, aber nur ganz ein bisschen. Das musste ja nicht sein, dass er sich im reifen Alter noch ans Saufen gewöhnte.

So lag er, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, nahm von Zeit zu Zeit ein Schlückchen aus der Flasche, dachte dabei mal an Mascha, mal an Pelagia, und die beiden so grundverschiedenen Frauen verschmolzen ihm auf unerklärliche Weise zu einem einzigen Wesen, für das Matwej Benzionowitsch solch zärtliche Gefühle empfand, dass ihm die Tränen in die Augen traten.

***

Berditschewski erwachte von einem hellen, unirdischen Geräusch. Er begriff zuerst überhaupt nicht, was das für ein Geräusch war. Erst als das zweite Steinchen an die Fensterscheibe traf – so stark, dass das Glas zerbrach –, sprang der Staatsanwalt hurtig auf und stolperte schlaftrunken durchs Zimmer.

Es war hell. Morgen.

Matwej Benzionowitsch riss das Fenster auf und lehnte sich hinaus.

Am Rinnstein stand seine Droschke.

»Schnell, gnädiger Herr, schnell!« 48-36 ruderte mit dem Arm. »Spurten Sie, spurten Sie, sonst entwischt er!«

Der Staatsrat ließ sich nicht lange bitten, er griff Gehrock und Hut und »spurtete« gleich durchs Fenster. Er landete ziemlich schmerzhaft auf den Füßen und war sofort hellwach.

»Wo ist er?«, keuchte er.

»Er ist gerade um die Ecke!« Der Kutscher ließ die Peitsche knallen. »Macht nichts, den haben wir gleich!«

Berditschewski riss die Uhr aus der Tasche. Halb acht. Dieser Sergej Sergejewitsch begab sich ja reichlich früh zum Dienst.

Die Müdigkeit war wie weggeblasen, und die Jagdlust ließ die Brust des Staatsanwalts schwellen.

»Da ist er«, rief 48-36 und deutete voraus.

Vor ihnen fuhr eine geschlossene schwarze Karosse von der Art, wie sie normalerweise Beamten im Generalsrang zur Verfügung stehen.

Die Kutsche bog in den Sabalkanski-Prospekt ein und fuhr ein Stück die Uferstraße entlang, ließ aber die Abzweigung zum Ismailowski-Prospekt links liegen.

»Aha, er fährt also nicht zum Dienst! Die Kanzlei des Ministeriums befindet sich in der Morskaja!«

»Was war in der Nacht?«, fragte Berditschewski knapp.

»Nichts, Euer Wohlgeboren. Ich habe keinen Augenblick die Augen zugemacht, ganz bestimmt!«

»Hier, nimm.«

Das waren nicht die vereinbarten »zwei und ein Fuffzjer«, auch nicht drei, sondern ganze vier Rubel, als Belohnung für besonderen Diensteifer. Aber der Kutscher hatte gar keine Augen für das Geld, er steckte es unbesehen in die Tasche. Du solltest als Detektiv arbeiten, Junge, dachte Matwej Benzionowitsch. Du wärst ein ausgezeichneter Agent.

Die Karosse fuhr an der Fontanka entlang, überquerte sie und rollte dann weiter auf dem Jekaterinhof-Prospekt. Bald darauf hielt sie vor einem Haus mit großen Fenstern.

»Was ist das?«

»Ein Gymnasium, Euer Wohlgeboren.«

Aber das hatte Matwej Benzionowitsch auch schon selber erkannt. Tatsächlich, ein Gymnasium, und zwar das fünfte Knabengymnasium, wenn er sich nicht täuschte. Was hatte Dolinin denn hier verloren?

Sergej Sergejewitsch blieb in seinem Wagen sitzen. Er zog sogar die Vorhänge zu.

Interessant.

In der Umgebung des Gymnasiums war nichts weiter Auffälliges zu bemerken. Immer wieder öffnete und schloss sich die hohe Eingangstür und ließ Lehrer und Schüler herein. Wenn irgendein hochnäsiger Herr vorbeikam, der Direktor vielleicht oder ein Schulinspektor, lüftete der Hausdiener die Schirmmütze und machte eine tiefe Verbeugung.

Einmal kam es Berditschewski so vor, als hätte sich der Vorhang ein wenig bewegt, aber im nächsten Moment war er schon wieder zurechtgezogen. Dann setzte sich die Karosse in Bewegung.

Was ging hier vor? Weshalb war Dolinin zu so früher Morgenstunde hierher gekommen? Doch nicht, um sich die Kinder anzuschauen?

Doch, begriff Matwej Benzionowitsch plötzlich. Genau deshalb – um sich die Kinder anzusehen. Genauer gesagt, eines davon. Pelagia hatte doch erzählt, dass Sergej Sergejewitschs Frau nach der Trennung den gemeinsamen Sohn zu sich genommen hatte.

Also absolut nichts Geheimnisvolles. Der Vater war auf Reisen gewesen und hatte Sehnsucht bekommen. Offenbar wollte er sich seinem Sohn nicht zeigen – entweder weil er ein Versprechen gegeben hatte oder weil er zu stolz war. Vielleicht wollte er auch einfach den Jungen nicht quälen, der sich inzwischen an einen neuen Vater gewöhnt hatte.

Im Grunde ein ganz normales, ganz menschliches Verhalten. Trotzdem war Berditschewski überrascht. Irgendwie erwartet man von einem Verbrecher, der Mörder dingt und unschuldiges Blut vergießt, kein normales menschliches Verhalten.

Oder war Dolinin kein Verbrecher?