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Aber der Staatsanwalt war schließlich kein naiver Jüngling mehr, das Leben und der Dienst hatten ihn gelehrt, dass nicht alle Verbrecher solche finsteren Gestalten waren wie der Graf Tscharnokuzki. Dennoch war Matwej Benzionowitsch ein wenig irritiert – er konnte und wollte einfach nicht akzeptieren, dass in diesem Unhold, der Pelagia vernichten wollte, auch nur ein Funken Menschlichkeit sein sollte.

Aber eine giftige Natter liebt ihre Brut ja auch, brummelte der Staatsrat und versuchte, die unangemessenen Zweifel zu verscheuchen.

Die Stadt war jetzt endgültig erwacht, die Straßen füllten sich mit Equipagen, auf den Trottoirs wälzte sich geschäftig die alltägliche morgendliche Menschenmenge dahin.

Es wurde erforderlich, den Abstand zu der verfolgten Kutsche zu verkürzen, sonst konnten sie sie leicht aus den Augen verlieren.

Vor dem Marinski-Palast passierte es dann auch. Ein Polizist hob die Hand und stoppte den Verkehr, die schwarze Karosse fuhr in Richtung des Reiterstandbilds Nikolais des Ersten davon, und Berditschewski saß auf der Brücke fest. Er hätte sich am liebsten gleich zu Fuß an die Verfolgung gemacht, aber das hätte nur die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Wie sähe das aus: Ein gesetzter, nicht mehr junger Herr rast, seinen Hut mit der Hand festhaltend, das Trottoir entlang.

Der Kutscher richtete sich auf seinem Bock auf, dann kletterte er sogar auf den Sitz.

»Und, ist er in die Morskaja eingebogen?«, fragte der Staatsanwalt ungeduldig.

»Nein, er ist geradeaus weiter, zur Isaaks-Kathedrale!«

Also wieder nicht zum Dienst, wieder nicht ins Ministerium!

Endlich kam der Verkehr in Bewegung.

48-36 gab dem Pferd die Peitsche, überholte geschickt einen Fiaker, schnitt einen vierspännigen Pferdebus und polterte eine Minute später schon über den Senats-Platz.

Plötzlich zog er die Zügel an und brüllte laut »Brrr«.

»Was ist los?«

Der Bursche deutete mit dem Kopf zur Seite. Da kam ihnen die schwarze Karosse ganz gemütlich entgegengezuckelt. Die Vorhänge waren geöffnet, der Wagen leer.

Er ist ausgestiegen! Aber wo?

Rechts der Platz und das Denkmal Peters des Großen. Vor ihnen die Newa. Um bis zur Englischen Uferstraße zu fahren, den Fahrgast dort abzusetzen und wieder zurückzukommen, dazu war die Zeit zu kurz gewesen.

Also musste Dolinin bei einem der massiven Amtsgebäude auf der linken Seite ausgestiegen sein, zwischen dem Boulevard und der Uferstraße, also entweder beim Senat oder beim Heiligen Synod. Am wahrscheinlichsten wohl beim Senat, dem obersten Rechtsorgan des Reiches. Denn was sollte ein Untersuchungsführer beim Synod?

»Wohin jetzt, Euer Wohlgeboren?«, fragte der Kutscher.

»Warte dort«, sagte Berditschewski und zeigte auf eine umzäunte Grünanlage.

Wer immer es war, den Dolinin im Senat aufsuchen wollte, so unmittelbar nach der Rückkehr von seiner Dienstreise und noch vor seinen direkten Vorgesetzten, musste eine Schlüsselrolle in dieser ganzen fatalen Geschichte spielen.

Folgendermaßen war jetzt zu verfahren! Zum Dienst habenden Beamten gehen, der die Besucherliste führt, und sagen: »Der Wirkliche Staatsrat Dolinin aus dem Innenministerium wird im Synod erwartet; er hat wichtige Papiere in seinem Amt vergessen, ich werde auf ihn warten, um sie ihm zu übergeben.« Der Beamte sagt natürlich: »Seine Exzellenz ist bereits eingetroffen, er ist bei dem und dem.« Und wenn er nicht von selber sagt, bei wem, konnte man ja nachfragen. Das war natürlich ziemlich frech, aber dafür wüsste man sofort Bescheid.

Oder sollte er doch besser abwarten und die Beschattung fortsetzen?

Ein diskretes Hüsteln riss den Staatsanwalt aus seinen hektischen Grübeleien.

Matwej Benzionowitsch fuhr zusammen und drehte sich zur Seite. Neben ihm stand ein Portier von höchst imposantem Aussehen, ein Luxusexemplar von Portier sozusagen – mit Dreispitz, tressenbesetzter Uniform und weißen Strümpfen. Das war schon kein Portier mehr, das war der reinste Feldmarschall. Während Berditschewski das Senatsgebäude betrachtete, hatte er die Annäherung dieser götzengleichen Erscheinung überhaupt nicht bemerkt.

»Euer Hochwohlgeboren werden erwartet«, sagte der Portier-Feldmarschall mit gebührlichem Respekt, aber gleichzeitig auch streng, wie es nur Bedienstete zuwege bringen, die ganz oben auf dem Olymp bei den Mächtigsten tätig sind.

»Von wem denn?«, stotterte Berditschewski verdutzt.

»Euer Hochwohlgeboren werden erwartet«, wiederholte der olympische Türhüter so nachdrücklich, dass der Staatsanwalt keine weiteren Fragen stellte.

»Gnädiger Herr, soll ich warten?«, rief 48-36.

»Ja, warte hier!«

Matwej Benzionowitsch war innerlich so darauf eingestellt gewesen, das Senatsgebäude zu betreten, welches näher an der Uferpromenade lag, dass er zuerst gar nicht verstand, was man von ihm wollte, als sein Begleiter ihn taktvoll am Ellenbogen berührte.

»Hier entlang, bitte«, sagte er und deutete auf den Eingang zum Heiligen Synod.

Zu dem Dienst habenden Registrator, der in der Halle saß und träge die Fliegen verscheuchte, sagte der Portier in gewichtigem Tonfalclass="underline"

»Zu Konstantin Petrowitsch. Der Herr wird erwartet.«

Und mit einer Verbeugung forderte er Berditschewski auf, ihm zur Treppe zu folgen.

Zu Konstantin Petrowitsch?

Ach . . . ach, ich blöder Dussel!

Matwej Benzionowitsch blieb stehen und schlug sich heftig an die Stirn – zur Strafe für seine Blindheit und Begriffsstutzigkeit.

Der Portier drehte sich bei dem Geräusch um.

»Haben Sie eine Mücke entfernt? Ja, ja, die reinste Plage. Wie die sich vermehrt haben – grauenhaft.«

Gesinnungsgenossen und Seelengefährten

Der Portier übergab Matwej Benzionowitsch an einen betagten Beamten, der am Fuße der Treppe wartete. Der verneigte sich kurz und bedeutete ihm mit einer Geste, ihm zu folgen.

Im Empfangszimmer des hohen Mannes, der als der Mächtigste im ganzen Reiche galt – weniger durch sein Amt als durch seinen geistigen Einfluss auf den Zaren – warteten mehr als ein Dutzend Besucher, da gab es Generäle in Paradeuniformen sowie zwei Bischöfe in vollem Ornat, aber auch einfaches Publikum – zum Beispiel eine Dame mit roten, verweinten Augen, einen aufgeregten Studenten und einen jungen Offizier.

Der Beamte trat zu dem Sekretär und wiederholte dieselben magischen Worte:

»Zu Konstantin Petrowitsch. Der Herr wird erwartet.«

Der Sekretär sah Berditschewski aufmerksam an, flatterte hinter seinem Tisch hervor und verschwand durch eine hohe weiße Tür. Kaum eine halbe Minute später war er wieder zurück.

»Bitte einzutreten.«

Matwej Benzionowitsch wusste plötzlich nicht, wohin mit seinem Hut. Schließlich legte er ihn beherzt auf dem Tisch des Sekretärs ab. Wenn ihm schon eine solche Ehre zuteil wurde, dass er an der Schlange vorbei hereingerufen wurde, dann sollen sie ruhig auch dem Hut Respekt erweisen.

Er biss sich auf die Unterlippe, die Finger seiner rechten Hand ballten sich unwillkürlich zur Faust.

Er trat ein.

Am entferntesten Ende des riesigen Saales, vor einem Tisch von gigantischen Ausmaßen, saßen zwei Herren. Der eine der beiden wandte sein Gesicht Berditschewski zu, und obwohl Matwej Benzionowitsch den Oberprokuror noch niemals persönlich gesehen hatte, erkannte er von verschiedenen Porträts her sofort dessen asketisches Gesicht mit den streng zusammengeschobenen Augenbrauen und den ein wenig abstehenden Ohren.

Der Zweite, der die goldbestickte Uniform eines Staatsbeamten trug, sah den Eintretenden kurz an und wandte den Blick sofort wieder ab.

Konstantin Petrowitsch Pobedin, der bekannt war für seine altmodische Petersburger Höflichkeit, erhob sich. Von nahem erwies sich der Oberprokuror als ein Mann von hoher, aufrechter Statur. Sein Gesicht war sehr hager, in den tief liegenden Augen leuchteten Verstand und Willensstärke. Als Berditschewski in diese bemerkenswerten Augen blickte, erinnerte er sich, dass seine Gegner den Oberprokuror gern den »Großinquisitor« nannten. Kein Wunder, es gab tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit.