Dolinin (denn natürlich war er der andere Herr) erhob sich nicht, im Gegenteil, er schaute demonstrativ zur Seite, als wollte er zeigen, dass er mit dem, was da gerade zwei Schritte neben ihm geschah, nicht das Geringste zu tun hatte.
Konstantin Petrowitsch sagte mit weicher, klangvoller Stimme:
»Sind Sie erstaunt, Matwej Benzionowitsch? Tatsächlich, ich sehe es. Aber warum denn? Sergej Sergejewitsch ist viel zu wertvoll für unser Land, als dass wir ihn ohne Schutz und Aufsicht ließen. Nein, nein, natürlich bin ich über alles informiert. Gestern haben wir Sie noch gewähren lassen, weil zunächst einmal geklärt werden musste, wer Sie eigentlich sind. Als ich dann Bescheid wusste, habe ich mir überlegt, dass ich gern mit Ihnen reden würde, ganz offen, von Mann zu Mann.« Auf Pobedins schmalen, trockenen Lippen lag ein freundliches, vielleicht sogar ein wenig mitleidiges Lächeln. »Sergej Sergejewitsch und ich wissen sehr genau, was Sie dazu bewegt hat, auf eigene Faust Ermittlungen durchzuführen. Sie sind ein kluger, tatkräftiger und mutiger Mann, Sie wären uns sowieso auf die Spur gekommen – wenn nicht heute, dann morgen. Also konnte ich Sie genauso gut gleich zu mir bestellen. Eine Begegnung mit offenem Visier, sozusagen. Versteckspiel liegt mir nicht. Ich nehme an, Sie halten Herrn Dolinin für einen schrecklichen Bösewicht oder vielleicht gar für einen Verschwörer?«
Matwej Benzionowitsch gab keine Antwort, er senkte zwar den Kopf, hielt aber den Blick seines Gegenübers fest. Er geruhte ein wenig zu schmollen.
»Bitte, setzen Sie sich doch hierher, zu Sergej Sergejewitsch«, forderte ihn der Oberprokuror auf. »Keine Angst, er ist kein Verbrecher, und ich, sein Lehrer und Mentor, wünsche ebenfalls keinem Menschen etwas Böses, was immer die Herren Liberalen auch über mich verbreiten mögen. Wissen Sie, was ich bin, Matwej Benzionowitsch? Ich bin ein Diener des Volkes. Was aber diese ungeheuerliche Verschwörung angeht, an die Sie glauben, so gebe ich unumwunden zu: Es gibt sie, diese Verschwörung. Aber es ist keine finstere, ungeheuerliche, sondern eine heilige Verschwörung, und ihr Ziel ist die Rettung der Heimat, des Glaubens und des Throns. Eine Verschwörung, der sich alle gläubigen, guten und ehrlichen Menschen anschließen sollten.
Berditschewski öffnete den Mund zu einer Entgegnung: Die meisten Verschwörungen, wollte er sagen, einschließlich der ungeheuerlichen, verfolgen irgendeinen heiligen Zweck, alle wollen die Heimat retten! – doch Konstatin Petrowitsch hob abwehrend die Hand:
»Halt, sagen Sie noch nichts, stellen Sie noch keine Fragen. Ich möchte Ihnen zunächst einiges erklären. Für diese große Aufgabe, von der ich gesprochen habe, brauche ich viele, viele Helfer. Jahr für Jahr wähle ich sie mit großer Sorgfalt unter den Besten aus und schare sie um mich, einen nach dem anderen, und das schon seit langem. Sie sind treue Mannen, meine Gesinnungsgenossen. Und jeder von ihnen wählt wiederum seine eigenen Helfer, die ihm zweckdienlich sind. Wie man mir berichtete, haben Sie Ihre Ermittlungen ausgerechnet auf die Person eines dieser zweckdienlichen Menschen konzentriert. Wie hieß er noch?«
»Razewitsch«, half Dolinin weiter, der zum ersten Mal den Mund auftat.
Obwohl er Berditschewski direkt gegenübersaß, gelang es ihm auf wundersame Weise, ihn nicht anzusehen. Dolinins Gesicht war düster und geistesabwesend.
»Richtig, ich danke Ihnen. Und diese Ermittlung, Herr Berditschewski, lenkte Ihre Aufmerksamkeit sehr schnell auf Sergej Sergejewitsch, den ich vor noch gar nicht langer Zeit als einen meiner Helfer gewonnen habe, und der sich bereits hervorragend bewährt hat. Sie wissen, was ich Ihnen damit sagen will?«
Matwej Benzionowitsch ließ diese rhetorische Frage unbeantwortet, zumal er keine Ahnung hatte, wohin dieses merkwürdige Gespräch führen sollte.
»Ich glaube an die Vorsehung«, erklärte Pobedin feierlich. »Die Vorsehung war es, die Sie zu uns geführt hat. Ich habe zu Sergej Sergejewitsch gesagt: ›Man könnte diesen Staatsanwalt natürlich ausschalten, damit er unserer Sache keinen Schaden zufügt. Aber sehen Sie sich diesen Menschen an, beachten Sie seine Taten. Dieser Berditschewski handelt zielstrebig, klug und uneigennützig. Sind das nicht genau die Eigenschaften, die wir beide an Menschen so schätzen? Lassen Sie mich mit ihm reden, als ein guter Hirte. Wir werden einander in die Augen sehen, und wer weiß, vielleicht finden wir in ihm einen weiteren Gleichgesinnten.«
Bei dem Wort »ausschalten« war Berditschewski kurz zusammengezuckt, und er vermochte den weiteren Ausführungen des Oberprokurors nicht mehr so aufmerksam zu folgen wie bisher. Ein panischer Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Hier und jetzt, in dieser Minute, entscheidet sich dein Schicksal.
Konstantin Petrowitsch hatte indes die Befangenheit seines Zuhörers falsch verstanden.
»Man hat Ihnen sicherlich erzählt, ich sei semitophob, ein Judenfresser? Das ist nicht wahr. Ich bin weit davon entfernt, die Menschen nach ihrer Abstammung zu beurteilen, und ich bin auch kein Feind der Juden, sondern nur des jüdischen Glaubens! Denn der jüdische Glaube ist ein giftiges Kraut, welches, da es aus derselben Wurzel wie das Christentum sprießt, hundertmal gefährlicher ist als der Islam, der Buddhismus oder sogar das Heidentum. Der schlimmste Feind eines Menschen ist niemals der Fremde, sondern der, der ihm nahe steht, der, mit dem er verwandtschaftlich verbunden ist! Aus diesem Grunde ist ein Jude, der dem falschen Glauben seiner Väter entsagt und den christlichen Glauben angenommen hat, so wie Sie, Matwej Benzionowitsch, mir so viel mehr wert als ein Russe, den nur die Gnade der Geburt in den Schoß des rechten Glaubens gelegt hat. Doch ich sehe, Sie möchten mich etwas fragen. Bitte, jetzt können Sie fragen.«
»Eure Exzellenz . . .«, begann Matwej Benzionowitsch, wobei er versuchte, das Zittern in seiner Stimme zu beherrschen.
»Konstantin Petrowitsch«, korrigierte der Oberprokuror milde.
»Gut. . . Konstantin Petrowitsch, das mit der Verschwörung habe ich nicht ganz verstanden. Meinten Sie das im übertragenen Sinne, oder . . .«
»Im allerwörtlichsten Sinne. Aber unsere Verschwörung richtet sich nicht gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, im Gegenteil, sie will sie retten und bewahren. Unser Land steht am Rande des Abgrunds, und wenn es nicht irgendwo Halt findet, dann wird es abstürzen und zugrunde gehen, und alles ist zu Ende. Eine mächtige satanische Kraft zieht unsere leidgeprüfte Heimat ins Verderben, und nur wenige gibt es, die dem Unheil Widerstand leisten. Die Uneinigkeit im Volke, der Niedergang der Moral und der Unglauben – welcher das schlimmste dieser Übel ist –, das ist die Gogol‘sche Troika, die Russland in den Abgrund reißt! Und wir sind nahe daran, für-wahr, wir sind nahe daran! Und er speit Feuer und Schwefel!«
Der Übergang von der nüchternen rationalen Sprechweise zu prophetischem Pathos gelang Kontantin Petrowitsch ganz selbstverständlich und ohne jede Anstrengung; der Oberprokuror besaß ohne Zweifel eine außergewöhnliche Rednergabe. Sein Zuhörer hatte keine Chance, als ihn diese geballte Ladung geistiger Energie traf. Er braucht auch gar kein großes Auditorium für seine Auftritte, dachte Berditschewski, er braucht keine Menschenmassen. Ein einziger Mensch ist ihm Auditorium genug, denn dieser Mensch ist der Autokrat Allrusslands.
Matwej Benzionowitsch fühlte sich wider Willen geschmeichelt. Für ihn, einen subalternen Beamten, verausgabte Pobedin persönlich die ganze Glut seiner staatsmännischen Seele?
In einem schwachen Versuch, der magischen Kraft des Oberprokurors zu widerstehen, entgegnete der Staatsrat:
»Verzeihen Sie, aber ich verstehe nicht, was . . .« Er verhaspelte sich und fing von vorne an; jetzt kam es darauf an, sich sehr genau zu überlegen, was er sagte. »Wenn meine Theorie richtig ist, dann zielen all diese . . . Handlungen Herrn Dolinins . . . darauf ab, um jeden Preis den sektiererischen Propheten Manuila zu vernichten. Um dieses Ziel zu erreichen und dabei zugleich alle Spuren zu beseitigen, schreckte der Herr Wirkliche Staatsrat vor keinem Mittel zurück. Eine unschuldige Nonne muss beseitigt werden – bitte sehr! Sogar ein harmloses Bauernmädchen hat er nicht geschont!«