»Ich habe sofort gefühlt, dass sie gefährlich ist. Deshalb bin ich ihr nicht von der Seite gewichen und habe sie genau beobachtet. Ich kenne diesen Menschenschlag, die geben nicht auf, bis sie ein Rätsel gelöst haben. Und sie ist der Lösung schon ganz nah.«
»Sehen Sie, Matwej Benzionowitsch, mit Ihnen kann man sich verständigen, weil Sie ein Mann sind und die Fähigkeit haben, hinter dem Teil das Ganze, hinter dem Einzelnen das Allgemeine zu sehen«, fiel Konstantin Petrowitsch wieder ein. »Eine Frau aber wird mich niemals verstehen können, weil der Einzelne für sie wichtiger ist als das ZIEL. Sie und ich, wir würden jederzeit einen einzelnen Menschen opfern, wenn es die Rettung Tausender und Millionen anderer erfordern sollte, selbst wenn uns dieser eine Mensch unendlich wertvoll wäre. Eine Frau jedoch wird sich niemals darauf einlassen, und viele Millionen werden mit dem einen Bedauernswerten zugrunde gehen, den sie verschonte. Ich habe Ihre Pelagia gesehen, und ich weiß, was ich sage. Sie will und kann nicht schweigen. Es tut mir sehr Leid, aber das Urteil ist schon gesprochen, niemand kann sie jetzt noch retten. Ich trauere um diese außergewöhnliche Frau – und Sergej Sergejewitsch noch mehr als ich, weil er sich in sie verliebt hat.«
Berditschewski sah Dolinin entsetzt an, aber in dessen Gesicht rührte sich kein Muskel.
»Wir werden gemeinsam um sie trauern«, schloss der Oberprokuror. »Und es soll uns ein Trost sein, dass sie im Heiligen Land ihre Ruhe finden wird.«
Vor Verzweiflung hätte Matwej Benzionowitsch beinahe aufgestöhnt. Sie wissen es, sie wissen alles!
»Ja, wir wissen es«, nickte Konstantin Petrowitsch, der offenbar die Kunst beherrschte, seinen Gesprächspartner auch ohne Worte zu verstehen. »Noch lebt sie, weil es so sein muss. Aber bald, sehr bald wird sie von uns gehen. Leider gibt es keinen anderen Ausweg. Es kommt vor, dass die Versammlung der Seelengefährten solche schweren Entscheidungen fällen muss, und sie tut es mit Bitterkeit und Schmerz, sogar wenn es nicht um eine einfache Nonne geht, sondern um weitaus verdienstvollere Personen.«
Berditschewski erinnerte sich an lange zurückliegende Gerüchte über den plötzlichen Tod des jungen Generals Skobelew, der angeblich von einer geheimen monarchistischen Organisation mit dem Namen »Heiliges Bataillon« exekutiert worden war.
»Das ›Heilige Bataillon‹«, sagte er unsicher.
Pobedin verzog unwillig das Gesicht.
»Wir haben keinen Namen. Und das ›Heilige Bataillon‹ war nichts als ein alberner Firlefanz, ein dummer Einfall höfischer Ehrgeizlinge. Wir sind keine Ehrgeizlinge, obwohl jeder meiner Helfer auf einen wichtigen Posten gestellt wird, der es ihm ermöglicht, seiner Heimat größtmöglichen Nutzen zu erbringen. Auch um Ihr Schicksal werde ich mich kümmern, dessen können Sie sicher sein, aber ich möchte, dass Sie sich uns nicht aus Gründen der Karriere anschließen, sondern aus Überzeugung. Also . . .« Der Oberprokuror sah den Staatsrat unverwandt an, und Berditschewski überlief es unter seinem durchdringenden Blick eiskalt. »Ich erzähle Ihnen jetzt, was nur dem engsten Kreis meiner Vertrauten bekannt ist. Wir haben eine Reihe von außerordentlichen Maßnahmen vorgesehen, für den Fall, dass die Gefahr revolutionärer Unruhen zu groß wird. Das ganze Übel besteht darin, dass Staat und Gesellschaft bei uns so naiv und sorglos sind wie Kinder. Die Menschen neigen dazu, die Bedrohung zu unterschätzen, die von Theorien und Ideen ausgeht. Es muss immer erst Blut fließen. Na gut, wir werden der Gesellschaft die Augen öffnen! Wir ergreifen die Initiative! Zwar wurde das Geschwür des Terrorismus in unserem Lande jüngst mit glühendem Eisen ausgebrannt, doch ist davon nur eine vorübergehende Linderung zu erwarten. Sobald eine neue Welle revolutionärer Gewalt unmittelbar droht, werden wir ihr zuvorkommen. Wir werden selbst Terror ausüben.«
»Sie werden die Revolutionäre töten?«
»Nein, das wäre sinnlos. Damit würden wir bei der Bevölkerung nur Anteilnahme hervorrufen. Nein, wir werden einen hohen Würdenträger töten, notfalls auch mehr als einen. Das werden wir als Beginn des revolutionären Terrors deklarieren. Wir werden eine ehrwürdige, hoch angesehene Person auswählen, damit alle sich darüber empören . . . Warten Sie, Matwej Benzionowitsch, erschrecken Sie nicht. Ich bin noch nicht am Ende. Wenn der Mord an einem Minister oder General-Gouverneur nicht ausreicht, lassen wir Bomben in Bahnhöfen oder Wohnhäusern explodieren. Dabei wird es eine große Zahl unschuldiger Opfer geben. Eine ungeheuerliche Provokation, werden Sie sagen. Ja, antworte ich, ungeheuerlich und abscheulich. Haben Sie den Revolutionären Katechismus‹ von Sergej Netschajew gelesen? Auch unsere Feinde erlauben sich Provokationen und Grausamkeiten. Also haben wir das Recht, die gleichen Waffen zu gebrauchen. Ich flehe zu Gott, dass es nicht so weit kommen muss.« Pobedin bekreuzigte sich energisch. »Und damit Sie mich nicht für eine Ausgeburt der Hölle halten, sage ich Ihnen noch etwas . . . Bevor es zu Explosionen kommt, wird ein weiterer hoher Würdenträger ermordet werden, einer, den der Gossudar selbst achtet und schätzt, auf dessen Wort er hört. Leider hört er nicht immer aufmerksam genug . . .«
»Sie?«, ächzte Berditschewski.
»Jawohl, ich. Und das ist nicht einmal das größte Opfer, das ich der Menschheit zu bringen gewillt bin!«, rief Konstantin Petrowitsch gramvoll aus, und Tränen standen in seinen Augen. »Was heißt das schon, sein Leben hinzugeben? Nichts! Eine Bagatelle! Nein, ich werde etwas weitaus Kostbareres opfern, nämlich meine unsterbliche Seele! Das ist der höchste Preis, den jeder irdische Führer für das Glück der Menschen zu zahlen verpflichtet ist, wenn das Schicksal es verlangt! Meinen Sie denn, ich wüsste nicht, dass ich die ewige Verdammnis auf mich nehme? Kein Dienst verlangt mehr Opfer als der meine. Ich sage etwas Furchtbares, etwas Gotteslästerliches: Mein Opfer ist größer als das Opfer Jesu, denn Jesus hat seine Seele gerettet. Jesus rief dazu auf, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ich dagegen liebe den Nächsten mehr als mich selbst. Um ihretwillen werde ich nicht einmal meine unsterbliche Seele schonen . . . Ja, indem ich dazu aufrufe, unschuldige Menschen zu töten, weil sie unsere Sache gefährden, gebe ich meine Seele dem Verderben preis! Aber es ist um der Liebe und der Wahrheit willen, es ist für das Glück meiner Mitmenschen!«
Die Augen des Oberprokurors waren jetzt nicht mehr auf Berditschewski gerichtet, sondern nach oben, zur Zimmerdecke, in deren Mitte ein majestätischer Kristalllüster schimmerte.
Er spricht nicht zu mir, begriff Matwej Benzionowitsch, sondern zu Gott. Also hofft er doch auf Vergebung.
Konstantin Petrowitsch trocknete sich mit einem Taschentuch die Tränen. Dann sagte er, jetzt wieder an Berditschewski gewandt, in strengem, unbeugsamem Tonfalclass="underline"
»Wenn du bereit bist, diesen Weg mit mir zu gehen, dann stell deine Schulter unter das Kreuz – und wir gehen. Wenn nicht – dann geh fort, und sei uns nicht im Weg! Also? Bleibst du oder gehst du?«
»Ich bleibe«, antwortete Berditschewski nach einer kaum spürbaren Pause – leise, aber mit fester Stimme.
Seine Exzellenz geht spazieren
Eine Stunde später verließ Matwej Benzionowitsch das Gebäude des Heiligen Synods – schon nicht mehr als Staatsrat, sondern als Angehöriger der vierten Klasse, der Generalsklasse. Die Beförderung war mit fantastischer Leichtigkeit und Schnelligkeit vonstatten gegangen. Konstantin Petrowitsch hatte mit dem Justizminister telefoniert – das dauerte höchstens drei Minuten – und dann eine Verbindung mit dem Schloss hergestellt. Allein beim Gedanken daran, mit wem er da sprach, waren Berditschewski die Handflächen feucht geworden. »Ein äußerst wertvoller Mann für unser Staatswesen, ich lege meine Hand für ihn ins Feuer.« Solche Worte fielen über ihn, einen kleinen, unbekannten Staatsanwalt aus Sawolshsk. Und zu wem wurde das gesagt!
Andere Beamte brachten die volle Dienstzeit hinter sich und mussten trotzdem noch monatelang auf die Beförderung warten, und bei ihm war die Sache im Handumdrehen erledigt, sogar die Ernennungsurkunde sollte noch am heutigen Tage ausgefertigt werden.