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Vor dem Jaffa-Tor befahl Pelagia, nach rechts abzubiegen. Sie umfuhren die Altstadt im Süden durch die Senke des Kidrontals.

Rechts leuchteten weiß die Grabmale des jüdischen Friedhofs auf dem Ölberg. Von weitem sah er aus wie eine riesige steinerne Stadt. Aber Polina Andrejewna hatte kaum einen Blick für diese weltberühmte Nekropole, deren Bewohner am Tage des Jüngsten Gerichtes als Erste auferstehen würden. Der erschöpften Reisenden war jetzt nicht nach Heiligtümern und Sehenswürdigkeiten zumute. Der runde Mond stand schon ziemlich hoch, und die Nonne fürchtete, zu spät zu kommen.

»Wenn wir in fünf Minuten nicht dort sind, wird es nichts mit den zweihundert Franken«, rief sie ungeduldig und boxte den Kutscher in den Rücken.

»Und was ist mit Heiraten?« Salach drehte sich um.

»Wie oft soll ich’s dir noch sagen, ich habe schon einen Bräutigam, noch einen brauche ich nicht. Beeil dich, sonst bekommst du kein Geld.«

Der Palästinenser war gekränkt, nichtsdestotrotz trieb er die Pferde zur Eile an.

Der Hantur polterte über eine Brücke und bog nach rechts in eine steil ansteigende Gasse ein.

»Da ist er, dein Garten«, brummte Salach und zeigte auf einen Zaun mit einer kleinen Pforte darin. »Fünf Minuten noch nich um.«

Mit pochendem Herzen schaute Pelagia auf den Eingang zum heiligsten aller irdischen Gärten.

Auf den ersten Blick war nichts Besonderes an ihm zu erkennen: ein paar dunkle Baumkronen und dahinter die Kuppel einer Kirche.

War Immanuel schon dort oder noch nicht?

Vielleicht war ja auch alles ein Irrtum?

»Warte hier«, flüsterte Pelagia und trat durch die Pforte in den Garten.

Wie klein er doch war! Höchstens fünfzig Schritte vom einen Ende bis zum anderen. In der Mitte ein verwahrloster Brunnen, ein Dutzend knorrige, krumme Bäume. Die Olivenbäume sollen unsterblich sein, sagt man. Jedenfalls können sie mindestens zwei – oder dreitausend Jahre alt werden. Sollte also womöglich einer dieser Bäume den Verrat des Judas miterlebt haben? Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr das Herz zusammen.

Aber noch beklommener wurde es ihr zumute, als sie sah, dass außer ihr kein Mensch in dem Garten war. Der Mond leuchtete so hell, dass man sich unmöglich verstecken konnte.

Ich darf nicht die Hoffnung verlieren, versuchte sie sich zuzureden. Vielleicht bin ich ja doch zu früh gekommen.

Sie trat wieder auf die Straße hinaus und sagte zu Salach:

»Lass uns dort hinunterfahren und warten.«

Salach lenkte die Pferde zurück zur Straße, bis zu einer Stelle, wo eine eingestürzte Mauer eine Art Höhlung bildete, die von tief herabhängenden Ästen verschattet wurde. Hier war der Hantur für jeden unsichtbar, der nicht wusste, dass er dort stand.

Flüsternd fragte Salach:

»Und auf wen warten wir, hm?«

Statt einer Antwort bedeutete sie ihm nur mit einer unwirschen Geste, er solle schweigen.

Seltsam, aber in diesem Augenblick hatte Pelagia keinen Zweifel mehr daran, dass Immanuel kommen würde. Doch ihre Aufregung wurde dadurch nicht geringer, sondern nahm im Gegenteil von Minute zu Minute zu.

Die Lippen der Nonne formten ein lautloses Gebet: »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerscharen! Meine Seele lechzt, ja verzehrt sich nach den Vorhöfen des Herrn. Mein Herz, mein ganzer Leib jubelt dem lebendigen Gott entgegen . . .« Die Worte kamen ganz von selbst, ohne Beteiligung ihres Verstandes, und erst als sie flüsterte: »Wahrlich, lieber ein Tag in deinen Vorhöfen als tausend in meiner Freiheit. Lieber auf der Schwelle liegen am Hause meines Gottes als in den Zelten des Frevels wohnen!«, begriff sie, dass sie ein Gebet für den Übergang irdischen Lebens in die Ewigkeit sprach.

Ein Zittern überlief sie.

Warum gab ihr ihre Seele jetzt gerade diesen Psalm ein, der für einen Menschen bestimmt ist, der an der Schwelle des Todes steht?

Aber bevor Schwester Pelagia ein anderes, freundlicheres Gebet sprechen konnte, bog jemand von der Straße her in die bucklige Gasse ein – eine Gestalt in langem Gewand, mit einem Stab in der Hand.

Mehr konnte die Nonne nicht sehen, denn in diesem Augenblick verschwand der Mond hinter einer Wolke, und es wurde stockfinster.

Der Wanderer ging ganz nahe an ihr vorbei, keine fünf Schritte entfernt, aber die Nonne erkannte trotzdem nicht, ob es der war, auf den sie wartete.

Sie beobachtete, ob er in den Garten eintrat oder nicht.

Er trat ein.

Also war er es!

In dieser Sekunde befreite sich auch der Mond aus seiner kurzen Gefangenschaft, und Pelagia sah die zerzausten, bis auf die Schultern fallenden Haare, das weiße Hemd und den dunklen Gürtel.

»Er ist es!«, rief sie laut und wollte gerade losstürzen, um ihm in den Garten zu folgen, aber da geschah etwas Unvorhergesehenes.

Jemand ergriff ihren Arm und drehte ihn mit einem Ruck auf den Rücken.

Pelagia und Salach hatten sich so sehr auf den Mann mit dem Stab konzentriert, dass sie nicht gemerkt hatten, wie sich noch eine weitere Gestalt heranschlich.

Es war ein Mann von Furcht erregendem Aussehen: breite Schultern, ein flaches, grobes Gesicht und ein mächtiger Bart. Der Kolben eines Karabiners ragte hinter seinem Rücken hervor, um den Kopf hatte er ein arabisches Tuch gebunden.

Mit einer Hand hielt der Unbekannte Salach am Kragen, mit der anderen umklammerte er Pelagias Ellenbogen.

»Was seid ihr für welche?«, zischte er auf Russisch. »Warum versteckt ihr euch? Habt ihr was gegen ihn im Sinn?«

Anscheinend bemerkte er erst jetzt, dass er eine Frau vor sich hatte, und ließ Pelagias Ellenbogen los, aber dafür packte er den Palästinenser jetzt mit beiden Händen und hob ihn fast vom Boden hoch.

»Wir sind Russen, Russen«, stammelte Salach erschrocken.

»Na und?«, knurrte der schreckliche Mensch. »Alle wollen ihm Böses, auch die Russen! Was macht ihr hier? Habt ihr ihm aufgelauert? Sagt die Wahrheit, sonst. . .«

Und er schwenkte eine so gewaltige Faust, dass der arme Palästinenser erschrocken die Augen zukniff.

Pelagia, die sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, sagte schnelclass="underline"

»Ja, wir haben auf Immanuel gewartet. Ich muss mit ihm reden, ich habe eine wichtige Nachricht für ihn. Und Sie . . . Wer sind Sie? Sie sind ein ›Findelkind‹, stimmt’s?«

»Die ›Findelkinder‹, die retten ihre Seele«, sagte der Bärtige mit unverhohlener Geringschätzung. »Aber ich muss ihn retten. Meine Seele, da kann ich drauf pfeifen . . . Aber er muss leben. Und du, wer bist du?«

»Ich heiße Schwester Pelagia, ich bin eine Nonne.«

Die Reaktion, die auf diese harmlose Bemerkung folgte, war vollkommen überraschend. Der Unbekannte schleuderte Salach zu Boden und packte die Nonne am Hals.

»Eine Nonne! Eine schwarze Krähe! Hat er dich geschickt, das Klappergerüst? Er war’s, wer denn sonst! Los, rede, sonst schneid ich dir den Hals durch!«

Vor Pelagias schreckensbleichem Gesicht blitzte ein Messer auf.

»Wer ist ›er‹?«, keuchte die Schwester. Sie verstand überhaupt nichts mehr.

»Lüge nicht, du Schlange! Der Oberste von eurer ganzen Kirchenbrut! Alle spionieren sie für ihn rum, schleichen ihm überallhin nach!«

Der Oberste der ganzen Kirchenbrut, also ein geistlicher Würdenträger?

»Sie meinen den Oberprokuror Pobedin?«

»Aha!«, rief der Bärtige triumphierend. »Du gibst es zu! Bleib liegen!« Er trat nach Salach, der versuchte, sich aufzusetzen. »Ich habe Manuila schon einmal vor diesem alten Blutsauger gerettet, und ich rette ihn immer wieder!« Er fletschte die Zähne zu einem schiefen Grinsen. »Na, sag schon, bestimmt hat er den guten alten Trofim Dubenko in guter Erinnerung behalten, der Konschtintin Petrowitsch, he?«

»Wen?«, krächzte Pelagia.

»Hat er dir nich erzählt, wie er ihn, den heiligen Mann, ins Loch gesteckt hat, wegen Klauen? Wo er doch unschuldig war? Und mich hat er als Wache aufgestellt. Wie viel Jahre hab ich dem Konschtintin Petrowitsch als Kettenhund gedient! Und der hätt mich auch verrecken lassen wie so’n Hund, da wär ich nie ein richtiger Mensch geworden! ›Trofimuschka, sagt er zu mir, pass mal gut auf diesen Dieb und Störenfried auf, der is gefährlich. Den Polizeiwachen, den vertrau ich nich. Lass kein an ihn ran und dass keiner mit ihm redet, und morgen früh kommt er dann gleich weg in die Festung Schlisselburg.‹«