»Sie gehören zu einer Kommune, stimmt’s?«
Das Mädchen hob ihr rundes Gesicht und lächelte:
»Oh, eine Nonne! Ja, wir sind Mitglieder der Kommune ›Megiddo Chadasch‹.«
»Und was bedeutet das?«, fragte die Nonne neugierig und ging in die Hocke.
»›Das Neue Megiddo‹. ›Megiddo‹ heißt auf Althebräisch ›Stadt des Glücks‹. Diese Stadt hat es wirklich gegeben, in der Jesreelebene. Sie wurde aber zerstört, entweder von den Assyrern oder von den Ägyptern, das weiß ich nicht mehr. Und wir bauen sie jetzt wieder auf, das Land haben wir schon von den Arabern gekauft.«
»Und das ist Ihr Anführer?«, fragte Pelagia und deutete auf den Bärtigen.
»Wer, Magellan? Nein, wir haben keinen Anführer, wir sind alle gleich. Er weiß einfach sehr viel, er war schon in Palästina und ist um die ganze Welt gesegelt – deshalb nennt man ihn auch Magellan. Er ist ein toller Kerl!« In der Stimme der jungen Dame mit den bloßen Beinen klang aufrichtige Bewunderung. »Mit ihm braucht man vor nichts Angst zu haben! Einmal, in Poltawa, da wollte ihn die »Leibgarde Christi‹ umbringen, weil er dort eine jüdische Bürgerwehr organisiert hatte. Aber er hat sich freigeschossen! Und jetzt sucht ihn die Polizei! Oj!« Das Fräulein merkte plötzlich, dass es sich verplappert hatte, und hielt sich erschrocken den Mund zu, aber Pelagia tat, als hätte sie die Bemerkung über die Polizei gar nicht gehört oder nicht verstanden; Nonnen sind ja sowieso ein bisschen einfältig und nicht ganz von dieser Welt.
Das Mädchen hatte sich auch gleich wieder beruhigt und zwitscherte weiter, als sei nichts gewesen.
»Die Idee mit der Stadt des Glücks stammt von Magellan, Er hat uns auch alle zusammengebracht, und Geld hat er aufgetrieben, dreizehntausend, stellen Sie sich das mal vor! Das hat er schon nach Jaffa überwiesen, auf die Bank, und nur ein wenig für die Reise behalten – acht Kopeken pro Kopf und Tag.«
»Acht Kopeken? Das ist aber sehr wenig.«
»Ja, schon, aber Kolosseum« – das Mädchen deutete auf einen unvorstellbar mageren und krummrückigen jungen Mann – »hat ausgerechnet, dass das genau der Betrag ist, den ein Ackerbauer zur Zeit König Salomons zum Leben hatte; natürlich in heutiges Geld umgerechnet. Kolosseum ist nämlich Student an der historischen Fakultät. Also müssen auch wir damit auskommen, weil wir ja jetzt auch Ackerbauern sind. Außerdem brauchen wir doch das Geld in Palästina, wir müssen Vieh kaufen und Sümpfe trockenlegen und Häuser bauen.«
Pelagia betrachtete den schmächtigen Kolosseum. Wie sollte so ein Hänfling denn die Hacke schwingen oder den Pflug führen?
»Und warum heißt er Kolosseum? Besonders groß ist er ja nicht gerade.«
»Eigentlich heißt er Fira Gluskin. Magellan hat ihn Kolosseum getauft, weil man doch immer sagt: ›die Ruinen des Kolosseums‹, ›die Ruinen des Kolosseums‹. Und Fira ist wirklich kein Mensch, sondern eine wandelnde Ruine, er hat alle Krankheiten der Welt: Rückgratverkrümmung, Plattfüße, Stirnhöhlenentzündung. Trotzdem fährt er mit.«
Der Gegenstand ihrer Erörterung spürte den mitleidigen Blick der Nonne und rief fröhlich herüber:
»He, Schwester, fahren Sie mit uns nach Palästina!«
»Ich bin aber doch gar keine Jüdin«, stotterte Pelagia verlegen, als sie sah, dass die ganze Gesellschaft zu ihr herschaute. »Und ich werde wohl kaum jemals eine werden.«
»Das brauchen Sie auch gar nicht«, lachte einer der Kommunarden. »Es gibt sowieso schon genug Pseudojuden. Da brauchen Sie sich nur die da angucken!«
Alle wandten sich um und fielen in sein Gelächter ein. In einiger Entfernung vollführten die drei »Findelkinder«, die Häupter mit Gebetsschals bedeckt, bodentiefe Verbeugungen. Ihre Stirnen klatschten mit inbrünstigen, kräftigen Schlägen auf das Deck.
»Da gibt es nichts zu lachen, ihr Dummköpfe«, knurrte Magellan. »Das riecht doch auf hundert Klafter nach Geheimpolizei. Dieser Manuila bezieht seinen Sold in der Garochowaja, dafür habe ich eine Nase. Man sollte ihn an den Füßen packen und dann mit dem Schädel immer auf den Poller, diesen Haderlumpen . . .«
Die Zionisten verstummten. Pelagia taten die »Findelkinder« Leid, niemand mochte sie, die Armen, alle hackten auf ihnen herum. Das waren keine »Findelkinder«, sondern Waisenkinder. Apropos, woher hatten sie eigentlich diesen merkwürdigen Namen?
Sie wollte schon hingehen und sie fragen, aber dann besann sie sich und sah davon ab – die Leute waren schließlich beim Gebet. Außerdem trödelte sie schon viel zu lange herum, Seine Eminenz würde bestimmt ärgerlich sein. Sie sollte sich wenigstens kurz bei ihm sehen lassen und ihm einen guten Abend wünschen, dann konnte sie sich in ihre Kabine in der zweiten Klasse zurückziehen und vielleicht ein Buch lesen oder sich auf den Unterricht vorbereiten. Morgen würden sie schon zu Hause sein.
Sie stieg die Treppe hinunter zum Kabinendeck.
Glasauge
Über dem Nebel, der den Fluss und die überschwemmten Ufer verhüllte, loderte jetzt wahrscheinlich schon das Abendrot. Zumindest hatte der Dunst vor ihnen eine rosa Färbung. Von diesem magischen Schimmer angezogen, begab sich Pelagia zum Bug des Dampfers. Vielleicht riss ja der Wind eine Bresche in den nervtötenden Schleier, und man konnte wenigstens für einen Augenblick den Abendhimmel genießen.
Am Bug ging tatsächlich ein leichter Wind, aber er war nicht stark genug, um dem Sonnenuntergang einen Durchschlupf zu verschaffen. Pelagia wollte gerade wieder umdrehen, als sie plötzlich merkte, dass sie nicht allein war.
Wenige Schritte vor ihr saß ein Mann in einem Korbstuhl. Er hatte seine langen Beine, die in hohen Stiefeln steckten, auf die Reling gelegt. Sie sah einen geraden Rücken, breite Schultern und eine Schirmmütze mit ausgebeultem Deckel. Der Mann zog an einer Papirossa und stieß eine Rauchwolke aus, die sich augenblicklich im Nebel auflöste.
Plötzlich drehte er sich um – abrupt, mit katzenhafter Schnelligkeit. Vielleicht hatte er ihren Atem oder das Rascheln ihrer Kutte gehört.
Ein schmales, dreieckiges Gesicht mit seitwärts abstehendem, spitz gezwirbeltem Schnurrbart schaute Pelagia an. Irgendetwas im Blick des Unbekannten kam der Nonne seltsam vor: als sehe der Mann sie an, aber irgendwie auch nicht. Verlegen, weil sie die Einsamkeit des Rauchers gestört hatte, murmelte sie:
»Verzeihen Sie bitte . . .«
Dazu machte sie eine linkische Verbeugung, die natürlich vollkommen überflüssig war, umso mehr, da es der Schnurrbärtige nicht für nötig hielt, ihre Höflichkeitsgeste zu erwidern.
Im Gegenteil – ehe sie sich versah, spielte er ihr einen hässlichen Streich: Er fletschte die Zähne zu einem breiten Grinsen, führte eine Hand zum Auge und – o Schreck – nahm den linken Augapfel heraus!
Pelagia sah die glänzende Kugel mit der kreisrunden Regenbogenhaut und dem schwarzen Punkt der Pupille auf der Handfläche liegen und wich mit einem erschrockenen Aufschrei zurück. Dann erst begriff sie, dass es sich um ein Glasauge handelte.
Der Schelm, mit dem Effekt zufrieden, lachte kalt. Dann sagte er mit einer höhnischen, knarrenden Stimme:
»Was für eine schnuckelige Mieze, und noch dazu eine Nonne. Es ist eine Sünde, sich über einen elenden Krüppel zu mokieren, Schwesterchen.«
Was für ein unangenehmer Mensch, dachte Pelagia, drehte sich um und trat eilends den Rückzug an. Wenn er nicht wollte, dass jemand sein Alleinsein störte, konnte er einem das auch auf angenehmere Weise zu verstehen geben.
Während sie das Oberdeck entlangging, focht sie einen inneren Kampf mit dem kleinen Teufel des Gekränktseins aus. Sie überwand den Gehörnten rasch und mühelos – das hatte sie während der Jahre im Kloster gelernt.
Jetzt sah sie vor sich, etwa dort, wo sich Mitrofanis Kabine befinden musste, etwas Weißes, Undeutliches, Schwankendes.
Als sie näher herankam, erkannte sie, dass es Vorhänge waren, die sich im Wind bewegten; allerdings nicht die der bischöflichen Kabine, sondern die der neben ihr gelegenen, in welcher der berüchtigte Prophet untergebracht war. Er hatte wohl das Fenster geöffnet und es dann vergessen. Vielleicht war er ausgegangen oder eingeschlafen.