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Von dieser Geschichte hatte ihr Dolinin erzählt, erinnerte sich Pelagia. Angeblich hatte Manuila dem Oberprokuror eine goldene Uhr gestohlen, und Konstantin Petrowitsch hatte ihm großmütig vergeben und ihm die Freiheit geschenkt. Dabei war es in Wirklichkeit also gerade umgekehrt gewesen! Der weise Oberprokuror hatte den herumvagabundierenden Propheten offenbar für eine ernsthafte Gefahr gehalten, hatte ihn auf dem nächsten Polizeirevier einsperren lassen und zur Sicherheit einen seiner persönlichen Handlanger vor der Zelle postiert. Später hätte er dann dafür gesorgt, dass der Prophet in ein sicheres Gewahrsam gebracht wurde, man kannte ja Pobedins Möglichkeiten.

»Sie haben Immanuel nicht mit den anderen Wächtern sprechen lassen, aber Sie selbst haben mit ihm geredet, stimmt’s?«, sagte die Schwester. Sie sprach es nicht wie eine Frage aus, sondern wie eine Feststellung. »Bitte lassen Sie meinen Hals los. Ich will Ihnen nichts Böses.«

»Ja, wir haben geredet. So hat noch keiner mit mir geredet. Konschtintin Petrowitsch, der kann quatschen wie der Herrgott selber, aber gegen Manuila ist das bloß wie Dampf von ’nem Haufen Pferdemist.«

Trofim Dubenko hielt seine Hand immer noch am Hals der Nonne, aber der Druck seiner Finger hatte nachgelassen, und auch die andere Hand mit dem Messer hatte sich gesenkt.

»Wie haben Sie es denn geschafft, den Häftling aus dem Polizeirevier herauszubringen?«

»Ganz einfach. Nachts saß da immer bloß ein Uniformierter an der Tür. Dem hab ich eins mit der Faust auf die Rübe gegeben, und weg war er. Dann hab ich zu Manuila gesagt: Ich komm mit, ich folg dir bis ans Ende der Welt, weil du selbst nich aufpassen kannst auf dich. Allein gehst du verschütt da inne Welt, aber du musst leben bleiben und mit den Leuten reden. Aber er hat mich nich mitgenommen. Nein, sagt er, das geht nich, ich muss alleine sein. Aber du brauchst um mich keine Angst ham, sagt er, weil Gott hütet mich. Na, wenn er nich will, denk ich, zwingen kann ich ihn nich. Also bin ich nicht mitgegangen, sondern hinter ihm her. Wo er hin is, bin ich auch hin. Gott passt auf, sagt er, na ja, kann sein, kann aber auch nich sein, doch der Trofim Dubenko, der is immer da, auf den is Verlass. Durch ganz Russland sind wir schon, und dann übern Ozean, und durchs Heilige Land, monatelang. Er ist ein seliger Mensch, kein Argwohn hat er in sich drinne. Kannst mir glauben, die halbe Erde rum bin ich ihm nach, und er merkt nichts. Man darf ihm nich vor die Augen komm’, das is der ganze Kniff. Weißt du, wie er geht? Der kuckt nie hinter sich, geht einfach so mit sei’m Stock und kuckt nich mal auf’n Weg. Bloß nach vorn und nach oben, in’n Himmel. Kuckt die ganze Zeit in die Gegend, dreht den Kopf nach hier, nach da. Ich sag’s dir, ein Seliger.«

Aus seiner Stimme klangen Bewunderung und Zärtlichkeit, und Pelagia erinnerte sich plötzlich an das »Wunder«, von dem Malke erzählt hatte.

»Sagen Sie mal, waren Sie das etwa, der den Beduinenräuber getötet hat, in den Judäischen Bergen?«

»Den mit dem Säbel? Das war ich. Den hab ich mit dem Karabiner hier umgepustet. Feines Ding, hab ich in Jaffa gegen meine Uhr eingetauscht. Ein Geschenk von Konschtintin Petrowitsch war das, für treue Dienste. Aber da pfeif ich drauf, auf die Dienste, und auf ihn auch, dieses Gerippe, samt seiner gammligen Uhr! Manuila zieht jeden Tag irgendein Unheil an. Wäre nicht Trofim Dubenko gewesen, er wär schon längst unter der Erde«, rühmte sich der Bärtige. Plötzlich stockte er. »Ach, du bist mir eine Raffinierte! Schau an, wie du mir die Zunge gelöst hast. Ich hab schon so lange kein Russisch mehr gesprochen, da kommt es eben alles raus. Also rede, kommst du von Pobedin oder nicht?«

Und er fuchtelte schon wieder mit dem Messer.

»Nein, ich komme von niemandem. Und ich will Immanuel . . . Manuila nichts Böses. Im Gegenteil, ich will ihn warnen.«

Trofim Dubenko schaute sie unverwandt an. Dann sagte er:

»Lass mal sehn!«

Und er tastete sie mit seinen Riesenpranken nach Waffen ab. Pelagia hob die Arme hoch und ließ es geschehen.

»Na gut«, sagte er schließlich. »Geh. Aber allein, der da bleibt hier. Und du musst mir versprechen: kein Wort über mich. Nich dass er mich wegjagt! Ohne ein’, der aufpasst, kann er nich sein.«

»Ich verspreche«, nickte die Schwester.

Im ersten Moment dachte sie wieder, es sei kein Mensch in dem Garten.

Sie ging von einem Ende zum anderen und schaute sich um, aber sie sah niemanden. Verwirrt blieb sie stehen. Da erklang aus der Mitte des Gartens eine sanfte Stimme, die sie in einer ihr unbekannten Mundart ansprach.

Jetzt erst bemerkte sie die Gestalt, die bei dem alten Brunnen im Grase saß.

»Wie bitte?«, stammelte sie erschrocken.

»Bist du ’ussin?«, fragte die Stimme. »Ich habe gef’agt, was du suchst. Oder wen?« Er verschluckte beim Sprechen das »R«, nach Art kleiner Kinder.

»Was tun Sie dort?«, fragte Pelagia.

Der Mann saß regungslos auf der Erde, von Mondlicht übergossen. Sie musste ganz nah an ihm vorbeigegangen sein, ohne ihn bemerkt zu haben.

Mit zögernden Schritten ging sie auf ihn zu. Sie sah ein hageres Gesicht mit weit geöffneten Augen, einen zotteligen Bart und einen vorstehenden Adamsapfel. Die Augenbrauen saßen sehr weit oben, wie in ständiger Bereitschaft zu freudigem Erstaunen. Seine Haare waren nach bäuerlicher Art geschnitten und lagen wie ein Helm um seinen Kopf, waren aber seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gestutzt worden, sodass sie ihm jetzt fast bis auf die Schultern hingen.

»Ich warte«, antwortete Manuila-Immanuel. »De’ Mond steht noch nicht ganz in de’ Mitte des Himmels, im Zenit, heißt das. Man muss noch ein bisschen wa’ten.«

»Und . . . was ist dann, wenn der Mond im Zenit steht?«

»Dann stehe ich auf und gehe do’thin.« Er zeigte auf die hinterste Ecke des Gartens.

»Aber da ist doch nur der Zaun.«

Der Prophet drehte sich um, als könnte jemand sie belauschen, und erklärte, die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern gesenkt:

»Ich hab ein Loch ‚eingemacht, als ich das letzte Mal hie’ wa’. Ein B’ett ist locke’, man kann du’chk’iechen und dann übe’ den Hof des Koste’s zum Be’g ’auf.«

»Und warum kann man nicht die Straße benutzen? Die führt doch auch auf den Berg?«, fragte Pelagia ebenfalls im Flüsterton.

Er seufzte.

»Das weiß ich auch nicht. Ich hab es schon ve’sucht, es geht nicht. Wahrscheinlich muss eben alles genau so sein wie damals. Abe’ das Wichtigste ist natü’lich, dass Vollmond ist. Das hatte ich nämlich ve’gessen, abe’ jetzt ist es mi’ wiede’ eingefallen. F’üher wa’ das Passahfest immer an Vollmond, das haben die Juden heute alles du’cheinande’ geb’acht.«

»Was haben sie durcheinander gebracht?«, fragte Pelagia mit gerunzelter Stirn und bemühte sich vergeblich, hinter den Sinn seiner Worte zu kommen. » Warum muss unbedingt Vollmond sein?«

»Ich sehe, du bist he’gekommen, um mit mi’ zu ’eden«, sagte Immanuel plötzlich, »’ede!«

Pelagia erschrak. Woher wusste er das?

Der Prophet stand auf und schaute ihr ins Gesicht. Er war einen ganzen Kopf größer als Pelagia. In seinen Pupillen glänzte das Mondlicht.

»Du willst mich vo’ etwas p’äventie’en«, sagte er und kniff die Augen zusammen, so als läse er etwas ab und könnte wegen der Dunkelheit nur schlecht sehen.