»Wie?«
»Du hast mich lange gesucht, weil du mich vo’ einem Unheil p’äventie’en willst. Ode‘ vo’ etwas, das du fü‘ ein Unheil hältst. O ja, es wi’d bestimmt seh‘ inte’essant sein, mit di‘ zu ’eden. Abe’ jetzt ist es Zeit, ich muss los. Wenn du willst, komm mit mi’. Wi‘ können ja unte’wegs ’eden.«
Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und ging voran, quer durch den Garten bis zum Zaun.
Eines der Bretter war tatsächlich nur noch am oberen Nagel befestigt. Immanuel schob es zur Seite und zwängte sich durch den entstandenen Spalt.
Pelagia folgte ihm, seltsam willenlos.
Sie durchquerten den dunklen Hof eines Klosters und traten durch eine Pforte in die dahinter liegende Gasse. Die ganze Zeit ging es ununterbrochen bergan.
Zu beiden Seiten des Weges standen armselige arabische Hütten. Nirgends brannte ein Licht. Einmal schaute die Nonne zurück und erblickte auf der gegenüberliegenden Seite den Tempelberg, auf dem die Omarmoschee wie ein Sahnehäubchen thronte. Das mondbeschienene Jerusalem wirkte genauso tot wie der jüdische Friedhof.
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie Manuila ihren Namen nicht genannt hatte, und sie sagte:
»Ich heiße Pelagia, ich bin eine Nonne . . .«
»Ah, eine B’aut Ch’isti!«, entgegnete Immanuel lächelnd. »De‘ Sohn Gottes hat so viele B’äute! Meh’ als de’ tü’kische Sultan. E‘ hätte ja wenigstens eine f’agen können, ob sie ihn hei’aten will.«
Der gotteslästerliche Scherz berührte Pelagia unangenehm, er störte die mystische Stimmung, die unter dem Einfluss des Mondlichts und des besonderen Ortes entstanden war.
Eine Weile stiegen sie schweigend bergan. Es ist Zeit, ihm alles zu erklären, dachte die Schwester und begann zu sprechen, ein wenig kühl und distanziert, weil sie seinen Scherz über die Bräute Christi noch nicht verdaut hatte.
»Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Sie befinden sich in Lebensgefahr. Sie haben machtvolle Feinde, die Sie umbringen wollen und die vor nichts zurückschrecken. Auch wenn Sie Russland verlassen haben, das hindert Ihre Feinde nicht. . .«
»Feindschaft ist eine wechselseitige Substanz«, unterbrach sie der Anführer der »Findelkinder« unbekümmert. »Wenn ich niemandes Feind bin, kann ich auch keine Feinde haben. Meine’ Meinung nach ist das ganz logisch. Die Leute, von denen du sp’ichst, täuschen sich, wenn sie denken, dass ich ihnen ein Leid antun könnte. Ich wü’de ge’n mit ihnen ’eden und alles e’klä’en. Ich we’de unbedingt mit ihnen ’eden – wenn es heute wiede’ nicht klappt. Abe’ wenn es heute klappt, dann we’de ich nicht meh’ hie‘ sein, und dann we’den sie sich be’uhigen.«
»Wenn was klappt?«, fragte Pelagia irritiert.
»Ich wü’de es di’ ja e’klä’en, abe’ du wü’dest mi’ sowieso nicht glauben.«
»Ach, Ihre Feinde werden Sie gar nicht anhören! Sie wollen nur Ihren Tod! Diese Leute töten jeden, der ihnen im Wege steht! Ohne mit der Wimper zu zucken! Und es liegt ihnen sehr, sehr viel daran, Sie zu vernichten.«
Der Prophet sah sie einen Moment an, aber nicht erschrocken, sondern eher verblüfft, als habe er nicht ganz verstanden, warum sie sich so aufregte.
»Pssst!«, flüsterte er und legte den Finger auf die Lippen. »Wi’ sind da. Und de’ Mond steht ge’ade genau im Zenit.«
Er stieß die Flügel eines halb vermoderten Tores auf, und sie betraten einen mit welkem Gras überwucherten Hof. Pelagia bemerkte im Hintergrund eine Hütte mit flachem, eingesunkenem Dach.
»Wessen Haus ist das?«, fragte sie leise.
»Ich weiß nicht. Hie’ haust niemand meh‘. Ich fü’chte, hie’ ist ein Unglück geschehen, ich spü’e so etwas . . .«
Immanuel durchlief ein Frösteln, und er umfasste seine Schultern.
Die verfallene Hütte interessierte Pelagia nicht im Geringsten. Sie empfand Verdruss und Ärger. Wie lange hatte sie nach diesem Menschen gesucht, wie viel Kraft hatte sie das gekostet, und er wollte ihr nicht einmal zuhören.
»Vielleicht denken Sie ja, dass Sie der Gefahr entkommen sind, weil Sie Russland verlassen haben?«, begann die Nonne zornig. »Von wegen! Sie werden Sie auch hier finden! Ich glaube, ich weiß, von wem die Gefahr ausgeht, obwohl es ganz unglaublich klingt. . . Und dann, warum ist er nur so besessen hinter Ihnen her? Das heißt, ich habe schon eine Vermutung, aber die ist derart. . .«
Pelagia verhaspelte sich. Sie betrachtete die ulkige Gestalt des Propheten, der jetzt auf einem Bein balancierte (mit dem anderen kratzte er sich die Wade), und war drauf und dran, ihre Vermutung tatsächlich als blanken Unsinn abzutun.
»Nein, Pobedin ist einfach verrückt. . .«, stammelte sie.
»Ich ve’stehe nicht, was du meinst«, sagte Immanuel. Er legte seinen Stab aus der Hand, hob ein Stück Holz von der Erde auf und fegte damit einen Haufen Unrat beiseite – Äste, Scherben, Erdklumpen flogen in alle Richtungen. »Das Wichtigste hast du mi’ nicht gesagt.«
»Das Wichtigste?«, fragte Pelagia verwundert, während sie seinem seltsamen Gebaren zuschaute.
Unter dem Unrat kamen ein paar alte Holzbretter zum Vorschein, die Immanuel sogleich auseinander schob. Eine schwarze Öffnung wurde sichtbar.
»Was ist das, ein unterirdischer Gang?«
Immanuel stieg vorsichtig in die Öffnung und holte dabei etwas aus seinem Schultersack hervor.
»Nein, das ist eine G’uft, eine Höhle. Hie’ sind Menschen beg’aben, die vo’ seh’ lange’ Zeit lebten, vo’ zweitausend Jah’en, vielleicht noch meh‘. Weißt du, was ›Aeneolithikum‹ bedeutet? Und ›Chalkolithikum‹?«, fragte er, die klangvollen Worte feierlich aussprechend.
Pelagia hatte schon von den altjüdischen Grabstätten gelesen. Alle Hügel um das alte Jerusalem herum waren von Kavernen ausgehöhlt, in denen man einst die Toten bestattete. Es war also nicht weiter erstaunlich, in diesem Hof eines verlassenen Bauernhauses eine solche Gruft zu finden. Aber was wollte Immanuel hier?
Jetzt riss er ein Streichholz an und entzündete einen zusammengedrehten, ölgetränkten Lappen.
Aus der Gruft schaute ein bärtiges Gesicht zu Pelagia empor, von purpurroten Flammen erhellt. Sofort wurde die Nacht um sie herum tiefschwarz.
»Es wi’d Zeit fü’ mich«, sagte Immanuel. »Abe’ ich sehe, dass du mich etwas f’agen willst und dich nicht t’aust. Hab keine Angst, f’ag mich. Wenn ich di‘ antwo’ten kann, we’de ich di’ die Wah’heit sagen.«
Dort unten ist eine Höhle, durchfuhr es Pelagia plötzlich. Eine Höhle!
Die Nonne vergaß, dass sie sich geschworen hatte, niemals wieder unterirdische Grotten zu betreten.
»Darf ich mitkommen? Bitte!«
Immanuel sah zum Mond auf, der genau in der Mitte des Himmels stand.
»Wenn du mi‘ ve’sp’ichst, dass du bald gehst und d’außen nicht auf mich wa’test.«
Pelagia nickte, und er reichte ihr die Hand.
Der Einstieg war zunächst sehr eng, und die Stufen, die sie unter ihren Füßen spürte, waren teilweise vom Alter zerbröckelt, aber ohne Zeichen von Abnutzung. Doch wer hätte sie auch abnutzen sollen?
Als sie am Ende der Treppe angekommen waren, hob Immanuel die Hand mit der Lappenfackel in die Höhe, und man sah, dass sie sich in einer ziemlich geräumigen Gruft befanden. In den Wänden um sie herum gähnten dunkle Nischen, deren Inhalt man allerdings bei dem trüben Licht nicht erkennen konnte. Der Prophet wandte sich zu Pelagia und sagte:
»Jetzt stell deine F’age, und dann geh.«
Plötzlich bewegten sich seine ohnehin schon sehr hoch sitzenden Brauen noch ein Stück höher, fast bis zum Haaransatz, und er schaute über sie hinweg, als gebe es hinter ihr etwas Interessantes zu sehen.
Aber Pelagia achtete nicht darauf, sie holte tief Luft, um ihre Aufregung zu bekämpfen, griff sich unwillkürlich an die Schläfe und stellte mit zitternder Stimme ihre Frage.