Diesmal brauchte der Bischof nur einmal zu lesen, der Brief war nur allzu verständlich, und er verstand ihn ohne Umschweife als Aufforderung zum Handeln. In ihm erwachte der ehemalige Kavallerieoffizier: Wenn das Horn zur Attacke bläst und die Säbel aufeinander klirren, dann denkt man nicht nach – da zählen nur noch der Instinkt und der rasende Strom des eigenen Blutes.
Der Schwächeanfall war vergessen. Der Bischof sprang aus dem Bett und rief laut nach den Zellendienern und dem Sekretär.
Eine Minute später hatte sich die bischöfliche Residenz in einen ausbrechenden Vulkan verwandelt. Ein Zellendiener war unterwegs zur Anlegestelle, um ein Boot nach Nischni Nowgorod zu ordern. Ein anderer rannte Hals über Kopf zum Telegrafenamt, um ein Eisenbahnticket von Nischni Nowgorod nach Odessa sowie eine Kabine auf einem Schnelldampfer zu reservieren. Der dritte wurde mit einer eilig hingekritzelten Nachricht zum Gouverneur geschickt, worin Mitrofani ihm mitteilte, er müsse dringend verreisen und der Vikar werde das Totenamt für Berditschewski lesen. Gott weiß, was der Gouverneur und die gesamte Sawolshsker Gesellschaft davon halten mochten, aber das kümmerte den Bischof in diesem Moment nicht im Geringsten.
Nachdem diese Anordnungen erteilt waren, machte sich der Bischof daran, sich eilends anzukleiden und die nötigsten Sachen für die Reise zusammenzupacken. Usserdow, der vor Neugierde verging, passte einen günstigen Moment ab, als der Bischof sich ins Ankleidezimmer zurückgezogen hatte, und stibitzte den Brief vom Tisch, der die wundersame Veränderung Mitrofanis bewirkt hatte. Die Botschaft des Verstorbenen interessierte Vater Serafim aufs Höchste – sie interessierte ihn so sehr, dass er es sogar für wert erachtete, das Briefchen in sein Buch abzuschreiben. Von dieser Tätigkeit vollkommen vereinnahmt, bemerkte der bischöfliche Schriftführer nicht, wie der Bischof, bereits in seiner Reisekutte, aber noch in Strümpfen, wieder ins Kabinett trat.
Als Usserdow erkannte, dass er ertappt worden war, wurde er leichenblass, und sein Gesicht verzerrte sich vor Angst. Er wich vor dem lautlos auf ihn zuschreitenden Bischof zurück, sein Kopf zuckte krampfhaft, aber er bekam kein Wort heraus.
»Ach, so ist das also«, sagte Mitrofani gedehnt. »Matwej und ich, wir haben uns die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, woher man dort oben alle unsere Geheimnisse kennt. Du warst das also, du Judas. Du hast ihnen von der Stiefelspur berichtet, und von dem Plan mit Palästina auch. In wessen Dienst stehst du? Rede!!!«
Dieses »Rede!!« donnerte der Bischof in solcher Lautstärke heraus, das der Kronleuchter erzitterte, und der Sekretär fiel krachend auf die Knie. Sein so ausnehmend hübsches Gesicht war jetzt längst nicht mehr so hübsch.
»Sprich, Elender!!!«
Der Sekretär deutete mit zitterndem Finger zur Decke.
»Der Obrigkeit? Wegen deiner Karriere? Ich weiß, du willst Bischof werden, deshalb hast du auch nicht geheiratet. Für wen spionierst du? Für die Geheimpolizei? Für den Synod?«
Der Bischof packte den bibbernden Usserdow am Kragen. Der kniff ängstlich die Augen zusammen und hätte bestimmt umgehend sein Geheimnis preisgegeben, aber Mitrofani öffnete die Hand wieder.
»Na gut. Matwej hat mir geboten, keine Nachforschungen anzustellen, also werde ich es auch nicht tun. Er ist ein staatsmännischer Kopf, er hat sich was dabei gedacht. Aber meinen Hirtensegen, den sollst du kriegen.«
Er holte kurz aus, haargenau so wie vor vielen Jahren bei seinen zahlreichen Raufereien als Fahnenjunker, und brachte Vater Serafims Gesichtszüge in Bewegung, aber nicht in metaphorischem Sinne, sondern in der denkbar schlagendsten Form, sodass es die Nase mit einem hässlichen Knirschen zur Seite schob.
Blutüberströmt stürzte der Ärmste auf den Teppich.
Der wird Bischof, dachte Mitrofani noch flüchtig, während er dem Ausgang zustrebte. Auf jeden Fall wird er Bischof. Aber einer mit schiefer Nase.
Im Vorzimmer wartete ein Zellendiener mit dem hastig gepackten Koffer. Seine Eminenz bekreuzigte sich schwungvoll vor der Ikone gegenüber dem Ausgang – dem Bild des von ihm ganz besonders verehrten Apostels Judas Thaddäus, dem Schutzpatron aller hoffnungslosen Unternehmungen und Tröster der Verzweifelten. Dann griff er einen Stab, nahm seinen breitkrempigen Reisehut und lief in den Hof, wo ein Viergespann auf ihn wartete.
Seit dem Eintreffen des Briefes war kaum eine halbe Stunde vergangen.
Der Bischof liest noch einen Brief und träumt zwei Träume
Zwei Tage später, bevor er sich in Odessa einschiffte, sandte Mitrofani ein Telegramm an den Vater Archimandrit in die Jerusalemer Mission mit der Anfrage, ob Seine Hochehrwürden Kenntnis über den Aufenthaltsort und das Befinden der Pilgerin Lissizyna habe.
Die Antwort traf noch vor seiner Abfahrt ein. Der Archimandrit berichtete: Ja, eine Person dieses Namens sei in Jerusalem in einem Hotel abgestiegen, sie sei indes schon vor acht Tagen mit unbekanntem Ziel abgereist und seitdem nicht wieder gesehen worden, obwohl ihr Gepäck sich immer noch in ihrem Hotelzimmer befinde.
Mitrofani knirschte mit den Zähnen, aber er erlaubte sich nicht zu verzweifeln.
Während der fünf Tage, die das Schiff nach Jaffa unterwegs war, betete er beinahe ununterbrochen. Wohl niemals zuvor hatte er sich so lange und intensiv dem Gebet hingegeben.
Vor dem Fenster seiner Kabine versammelten sich die Pilger, betrachteten voller Ehrfurcht den sich immer wieder tief zum Boden verneigenden Bischof, und sie vereinbarten untereinander, den heiligen Mann nicht unnötig zu belästigen, indem ihn jeder einzeln um seinen Segen bat, sondern er sollte sie alle auf einen Schlag segnen, kurz bevor sie das Schiff verließen.
Am achten Tage nach seiner Abreise aus Sawolshsk traf Seine Eminenz bereits in der Jerusalemer russisch-orthodoxen Mission ein. Dort begab er sich unverzüglich in die Kanzlei, um in Erfahrung zu bringen, ob seine geistliche Tochter inzwischen zurückgekehrt sei.
Doch, natürlich, sagte man ihm. Sie sei hier gewesen. Einen Tag nach der Anfrage Seiner Eminenz. Man habe umgehend ein weiteres Telegramm nach Odessa geschickt, aber das habe Seine Eminenz wohl nicht mehr erreicht.
»Gott sei Dank! Wo ist Pelagia?«, rief Mitrofani. Vor Erleichterung wurden ihm die Knie weich. »Ist sie wohlauf?«
Das könne man ihm nicht sagen, lautete die Antwort. Persönlich habe man sie nicht gesehen. Am vergangenen Samstag jedoch sei ein Botenjunge aus dem Hotel Frau Lissizynas in die Mission gekommen und habe ein Paket für Seine Eminenz abgeliefert. Am Tage darauf habe der Vater Archimandrit der Dame mitteilen lassen wollen, dass Bischof Mitrofani sich um ihr Wohlbefinden sorge, aber Frau Lissizyna sei nicht auf ihrem Zimmer gewesen. Und auch an den darauf folgenden Tagen sei es nicht gelungen, sie anzutreffen, obwohl man es mehrmals versucht habe.
Der Bischof begriff, dass er nichts weiter tun konnte, und zog sich unter dem Vorwand, er sei von der langen Reise erschöpft, in die Gemächer zurück, die für besonders ehrwürdige Gäste vorgesehen waren. Ohne auch nur den Hut abzunehmen, setzte er sich an den Tisch und öffnete mit zitternden Händen das ihm ausgehändigte Kuvert.
Als er den dicken Stoß beschriebener Papierbogen sah und die Handschrift, die ihm so vertraut war, erkannte, ließ er vor Aufregung seinen Zwicker fallen. Das rechte Glas zersprang kreuzweise – und so las er dann, durch das Kruzifix der Sprünge.