»An Seine Eminenz Mitrofani – Gott gebe ihm Licht, Kraft und Freude.
Ich hoffe, Sie werden diesen Brief nicht lesen müssen. Oder hoffe ich, im Gegenteil, dass Sie ihn lesen? Ich weiß es nicht. Aber wenn Sie ihn lesen, dann bedeutet es, dass alles wahr ist, auch wenn es unmöglich wahr sein kann.
Nein, das ist ein schlechter Anfang. Ich verwirre Sie nur. Verzeihen Sie.
Und verzeihen Sie mir auch, dass ich Sie betrogen und Ihre Leichtgläubigkeit missbraucht habe. Sie haben mich auf diese weite Pilgerreise geschickt, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich jedoch habe Ihnen verschwiegen, welches der eigentliche Grund war, warum ich ins Heilige Land wollte: nicht um Ruhe und Frieden zu finden, sondern um meine Aufgabe zu Ende zu führen. Sie hatten ganz Recht: Ich habe kein Talent zum Nonnendasein, ich bin außerstande, in Stille und Demut für die Menschen zu beten. Von allen Bräuten Christi bin ich die missratenste. Aber davon erst zum Schluss, an gegebener Stelle.
Wie Sie sich erinnern, wurde dreimal der Versuch unternommen, mich umzubringen, einmal in Stroganowka und zweimal in Sawolshsk. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir.; meine Person für sich genommen solch mächtigen Verbrechern nicht derartig verhasst sein kann. Es gibt nicht den geringsten Anlass dafür. Folglich konnte es nicht um mich gehen. Aber um wen – oder um was – ging es dann?
Angefangen hat alles mit dem Mord an einem gewissen Pseudo-Propheten, und auch die folgenden Ereignisse hatten immer in irgendeiner Weise mit jenem berüchtigten Manuila zu tun. Ich hatte natürlich keine Vorstellung davon, um was für einen Menschen es sich bei diesem Manuila überhaupt handelte, aber ich sah, dass die einen nach seinem Leben trachteten, während andere ihn beschützen wollten, und da Erstere offenbar die Stärkeren waren, konnte ich mir leicht ausrechnen, dass sie früher oder später ihr Ziel auch erreichen würden. Was nun meine Person betrifft, so spiele ich in dieser Geschichte eine ähnliche Rolle wie die unglückliche Dummka – ich habe ihren Weg gekreuzt und sie auf irgendeine Art gestört. Deshalb haben sie beschlossen, mich aus dem Weg zu räumen, so wie man einen Stein beiseite räumt, damit man nicht über ihn stolpert. Ein anderes Interesse konnten Manuilas Feinde an mir nicht haben.
Wie Sie wissen, habe ich schon mehrere Morde aufgeklärt. Aber ist es nicht hundertmal wichtiger, einen Mord zu verhindern? Und wenn man glaubt, dass man die Kraft dazu hat, wäre es dann nicht eine Todsünde, untätig zu bleiben? Wenn ich Sie auch durch mein Schweigen belogen habe, so tat ich dies nur, weil ich befürchtete, dass Sie mich niemals fortgelassen hätten, wenn Sie die Wahrheit gewusst hätten.
Aber es gab noch einen weiteren Grund für diese Reise, es ging mir nicht nur darum, Immanuel zu retten (ich möchte ihn jetzt lieber mit diesem Namen nennen). Ihn und mich verbindet jenes wundersame Geschehnis in der Höhle, für das ich einfach keine Erklärung finden konnte und das mir bis heute keine Ruhe lässt. Immanuel war in derselben Höhle. Mehr noch, wie die Dorfbewohner sagten, kam er aus dieser Höhle. Vielleicht konnte er ja das Geheimnis erklären ?
Zwei Dinge schienen mir ganz klar.
Erstens, dass der Prophet – oder der Pseudo-Prophet, darüber will ich nicht urteilen – im Heiligen Land zu suchen sein musste. Entweder hielt er sich bereits dort auf, oder er war auf dem Wege dorthin. So hatten es die »Findelkinder« gesagt, und schließlich war ja Scheluchin, der falsche Immanuel, nicht ohne Grund unterwegs nach Palästina gewesen.
Zweitens, dass die Feinde Immanuels unter unseren damaligen Mitreisenden auf der »Stör« zu suchen sein mussten. (Ich will dazu gleich anmerken, dass ich mich in diesem Punkt geirrt habe. Aber das fand ich erst viel später heraus, nachdem ich kreuz und quer durch Judäa, Samaria, Galiläa und Idumäa gereist war.)
Folgendermaßen kam ich zu der Liste meiner Verdächtigen:
Zunächst stellte ich mir die Frage, wer den ehemaligen Gendarm Razewitsch hätte beauftragen können.
Die »Warschauer«, von denen Matwej Benzionowitsch gesprochen hatte, kamen für mich nicht in Betracht. Irgendwelche Diebe, seien es auch die allerraffiniertesten, hätten nicht so beharrlich und auf so skurrile Weise versucht, mich zu beseitigen. Und dass ihnen irgendein Prediger dermaßen im Weg sein sollte, dieser Gedanke schien mir geradezu absurd.
Aber diese übergeschnappten Menschenhasser, die sich »Leibgarde Christi« nennen, die konnten natürlich in so einem Prediger, der russische Menschen vom orthodoxen Glauben zum Judentum bekehrt, einen gefährlichen Feind sehen.
Dasselbe gilt für das entgegengesetzte Lager, für die fanatischen Anhänger eines autonomen Judentums, die Immanuel für einen bösen Narren halten, der Spott mit ihrem Glauben treibt.
Außerdem gab es auf der »Stör« noch eine Gesellschaft von Zionisten, außerordentlich tatkräftigen jungen Leuten, die Immanuel in Verdacht hatten, mit der Geheimpolizei in Verbindung zu stehen. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass es unter den Verfechtern der Idee eines eigenen jüdischen Staates Besessene gibt, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen, wenn es nur ihren Zielen förderlich ist.
Später, als ich schon hier in Palästina war, kam mir noch eine weitere Version in den Sinn, aber die werde ich vorläufig noch für mich behalten, um Sie nicht zu erzürnen, zumal sie sich, wie die vorherige auch, letztlich als haltlos erwies.
Anhand der Liste meiner Verdächtigen arbeitete ich einen Plan aus, wie ich weiter Vorgehen wollte, und ich habe mich nach meiner Ankunft in Jaffa unverzüglich an seine Durchführung gemacht. Mich trieb die Angst, dass die mächtigen Feinde Immanuels ihn vor mir erreichen würden und ich zu spät käme.
Zuerst begab ich mich nach Jerusalem . . .«
Der Bischof las, wie Pelagia ihre Versionen eine nach der anderen überprüfte und verwarf und gleichzeitig dem rastlosen Propheten, den es an keinem Orte lange hielt, immer näher kam.
Dabei geschah etwas Seltsames mit Mitrofani. Von der ersten Zeile an hatte er sich in einem Zustand höchster Erregung befunden, die mit jeder Seite immer stärker und stärker wurde. Bald zitterten ihm die Hände so heftig, dass er die Blätter auf den Tisch legen und sie mit seinem Brillenetui beschweren musste. Der Schweiß rann ihm übers Gesicht, aber er merkte es nicht. Geistesabwesend setzte er den Hut ab und legte ihn neben sich. Irgendwann schob er ihn mit dem Ellenbogen vom Tisch, aber auch das bemerkte er nicht.
Schließlich erreichte seine nervöse Erregung ihren Gipfelpunkt und schlug ins Gegenteil um. Ein Schwindelgefühl bemächtigte sich seiner, und unaufhaltsam fiel er in Schlaf.
Vor vielen Jahren, als er als Kommandeur einer Eskadron an der Schlacht bei Balaklawa teilnahm, hatte er einmal erlebt, wie der Oberbefehlshaber der Truppe direkt an seinem Beobachtungsposten einschlief. Er saß an einem Klapptisch, schaute mit äußerster Konzentration durchs Fernrohr und gab dabei seine Befehle aus, und auf einmal, im entscheidenden Moment der Schlacht, ließ er seinen Kopf auf die Arme sinken und schlief ein. Die Adjutanten stürzten erschrocken zu ihm hin, aber der Stabschef, ein alter, erfahrener Krieger, sagte: »Lassen Sie ihn nur, das ist gleich vorbei.« Und tatsächlich, fünf Minuten später wachte der General erfrischt auf und machte weiter, als wäre nichts gewesen.
Genau das Gleiche geschah jetzt mit Mitrofani. Die Zeilen verflochten sich zu einer langen Schnur, die den Bischof unaufhaltsam in die Dunkelheit hinabzog. Von einer Sekunde auf die andere sank ihm der Kopf vornüber auf den Tisch, seine rechte Wange bettete sich auf seinen Ellenbogen, und er fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.