Seine Eminenz hatte kurz hintereinander zwei Träume.
Der Erste war süß und wonnevoll.
Mitrofani sah den Herrgott in Gestalt einer schimmernden Wolke, und die Wolke sagte zu ihm mit hallender Stimme: »Was soll ich mit deinen mageren Gebeten, Bischof? Was soll ich mit Klöstern und Mönchen? Das ist nichts als dummes, nutzloses Zeug. Liebet einander, ihr Menschenkinder, der Mann die Frau, die Frau den Mann, das ist für mich das beste Gebet.«
Gleich danach betrat Mitrofani ein Haus. Das Haus stand am Ufer eines Sees, in der Ferne sah man Berge, unten blau und oben weiß. Die Sonne schien, im Garten bogen sich die Äste unter der Last der Äpfel, und eine Frauenstimme sang leise ein Schlaflied. Mitrofani drehte sich um und erblickte ein Kinderbett. Neben dem Bett stand Pelagia, aber nicht im Habit, sondern in einem normalen Hauskleid, und das bronzene Haar fiel ihr locker auf die Schultern. Pelagia schaute Mitrofani an und lächelte zärtlich, und er dachte: »Wie viele Jahre habe ich nutzlos vertan! Hätte die WOLKE nur schon früher zu mir gesprochen, als ich noch ein junger Mann war! Aber egal, ich bin ja noch rüstig, wir können noch lange glücklich sein.«
Dabei drehte er sich von der rechten Wange auf die linke und begann einen zweiten, ganz anderen Traum zu träumen.
Er träumte, er sei erwacht und setze die Lektüre des Briefes seiner geistlichen Tochter fort (obwohl er in Wirklichkeit immer noch schlief). Zuerst las er, dann aber schien er zuzuhören, und er hatte nicht mehr das Papier vor sich, sondern Pelagia selbst.
»Ich weile nicht mehr unter den Lebenden«, flüsterte ihre Stimme. »Du wirst mich auf Erden nicht wieder erblicken, denn ich bin in die Ewigkeit eingegangen. Ach, wie schön ist es hier! Wenn ihr Lebenden das wüsstet, ihr würdet euch kein bisschen mehr vor dem Sterben fürchten, sondern ihr würdet den Tod mit freudiger Ungeduld erwarten, so wie ein Kind sich auf Weihnachten oder seinen Namenstag freut. Der Herrgott ist ganz anders, als die Kirche uns lehrt, er ist gütig und versteht einfach alles. Ihr Dummerchen trauert und weint um uns, aber wir bedauern euch. Weil ihr euch so sehr quält und vor allem so viel Angst habt.«
Jetzt hörte der Schlafende nicht mehr nur Pelagias Stimme, sondern er sah sie auch selbst. Sie war von einem hellen Schein umgeben, der zwar nicht so strahlend leuchtete wie die göttliche Wolke, aber dafür in allen Farben schimmerte. Es war eine wahre Augenfreude. »Was soll ich denn tun?«, rief Mitrofani aus. »Ich will zu dir! Wenn ich dafür sterben muss – bitte, gerne. Nur nimm mich zu dir!« Sie lachte leise, wie eine Mutter über das sinnlose Gelalle ihres Babys. »Du hast es zu eilig. So geht es nicht. Du musst leben, so lange dir gegeben ist, aber hab keine Angst: ich warte. Hier gibt es doch keine Zeit.«
Diese Worte erfüllten Mitrofani mit tiefem Frieden, und er erwachte.
Er rieb sich die Augen, griff den Kneifer, der ihm von der Nase gefallen war, und setzte ihn wieder auf.
Er las weiter.
Der rote Hahn
». . . Sie waren dort?«, fragte ich Immanuel und wollte noch sagen: »in dieser Höhle«, aber in diesem Augenblick hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ich drehte mich um und erblickte einen Mann. Er trug arabische Kleidung, und im ersten Moment dachte ich, er sei jemand von den Ortsansässigen, der zufällig beobachtet hatte, wie wir in das unterirdische Gewölbe gestiegen waren. Aber das runde, dicklippige Gesicht des Unbekannten zerfloss in einem höhnischen Lächeln, und er sagte in reinstem Russisch: »Na, Hänsel und Gretel, was haben wir denn da Schönes ? Einen Schatz? Dann gebt mal her. Ihr braucht keinen Schatz mehr.«
»Was für einen Schatz?«, stammelte ich und sah plötzlich, dass er etwas in der Hand hielt, etwas Schwarzes, matt Schimmerndes.
Da begriff ich: Das ist es, was ich so sehr gefürchtet habe. Ich bin zu spät gekommen. Sie haben ihn gefunden, und jetzt werden sie ihn töten. Seltsam, aber in diesem Augenblick dachte ich überhaupt nicht daran, dass man auch mich töten würde, so sehr ärgerte ich mich über mich selbst. Wie lange hatte ich gebraucht, ihn zu finden! Und ich hatte doch so deutlich gefühlt, dass mir die Zeit davonlief!
Aber der rundgesichtige Mörder versetzte mir noch einen weiteren Schlag. »Vielen Dank, Schwester, du hast eine Spürnase wie ein Bluthund. Du hast mich schnurstracks zu meiner Beute gebracht.« Mir wurde ganz schlecht, als er das sagte. Also war ich schuld daran, dass sie Immanuel gefunden hatten ? Ich war an allem schuld!
Aber das Schlimmste war, dass ich mich in diesem schrecklichen Moment ganz schändlich verhielt, wie ein hysterisches Weib: Ich fing an zu heulen. Schmerz und Scham schnürten mir die Kehle zu, ich fühlte mich wie die jämmerlichste Kreatur auf der ganzen weiten Welt.
»Was denn, kein Schatz? Schade. Aber ich freue mich trotzdem über unsere Begegnung, außerordentlich sogar«, spottete der Bösewicht. »Ich würde auch gern noch ein wenig mit euch plaudern, aber die Pflicht ruft, die Arbeit muss getan werden.« Und schon hob er die Waffe, bereit zu schießen. Aber da schob Immanuel mich auf einmal zur Seite und machte einen Schritt auf den Mörder zu.
»Du verdienst dein Geld damit, dass du Menschen tötest? Das ist deine Arbeit?«, fragte er – überhaupt nicht zornig oder tadelnd, sondern eher neugierig, es klang beinahe, als freute er sich.
»Zu Ihren Diensten.« Der Rundgesichtige machte eine scherzhafte Verbeugung, als empfinge er ein verdientes Kompliment. Er fühlte sich offensichtlich vollkommen als Herr der Lage und hatte nichts dagegen, die Ausführung seines schändlichen Vorhabens noch etwas aufzuschieben.
»Wie gut, dass wir uns begegnet sind!«, rief Immanuel »Genau so jemanden wie dich brauche ich!«
Er machte noch einen Schritt auf ihn zu und breitete die Arme aus, als wollte er den Halunken an seine Brust drücken.
Der aber wich flink zurück und hob den Revolver an, sodass die Mündung direkt auf die Stirn des Propheten zeigte. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Hohn zu Wachsamkeit.
»Na, na«, begann er, aber Immanuel unterbrach ihn sofort. »Ich brauche dich, und du brauchst mich! Ich bin ja extra deinetwegen hier!« »Wie meinst du das?«, fragte der Mörder verdattert, und ich dachte mit Grauen: Jetzt schießt er. Immanuel dagegen beachtete die Waffe gar nicht, er schien überhaupt keine Angst zu haben. Im Nachhinein denke ich, dass dies für-wahr ein sonderbarer Anblick gewesen sein muss: Ein Unbewaffneter geht auf einen Bewaffneten zu, und dieser weicht Schritt für Schritt immer weiter vor ihm zurück.
»Es gibt ja niemanden auf der Welt, der unglücklicher wäre als du. Deine Seele ruft um Hilfe, denn der Teufel hat Gott aus ihr verdrängt. Das Gute in der Seele, das ist Gott, und das Böse ist der Teufel. Hat man dir das als kleines Kind nicht beigebracht?« – »Ah«, grinste der Mörder. »Das soll wohl eine Predigt werden?! Da hast du aber den Falschen erwischt. . .«
Ich hörte, wie der Hahn gespannt wurde und schrie vor Entsetzen auf. Immanuel drehte sich zu mir um, als sei nichts geschehen, und sagte: »Sieh mal, jetzt werde ich dir sein Kindergesicht zeigen.«
Ich verstand nicht, was er meinte. Der Henker auch nicht. »Was willst du ihr zeigen?«, fragte er und ließ die Mündung ein wenig sinken, seine kleinen Augen blinzelten verdutzt. »Dein Kindergesicht«, sagte der Prophet euphorisch. »Du musst nämlich wissen, dass jeder Mensch, wie alt er auch ist, noch immer das Gesicht in sich trägt, mit dem er auf die Welt gekommen ist. Aber es ist sehr schwer, dieses Gesicht zu sehen. Wie soll ich ’s dir erklären? Also, stell dir vor, es begegnen sich ganz zufällig zwei Schulkameraden, die sich seit dreißig oder vierzig Jahren nicht gesehen haben. Sie schauen sich an – und erkennen einander und nennen sich sofort mit den lustigen Spitznamen von früher. Ihre alten Gesichter werden für einen Moment zu denen, die sie vor vielen Jahren waren. Das Kindergesicht ist das wahrhaftigste Gesicht. Es ist immer da, es kann nirgendwohin entfliehen, nur verbirgt es sich mit den Jahren unter den Falten und Runzeln und Bärten . . .«