»Sehr interessant«, besann sich der Mörder und fiel Immanuel ins Wort. »Ein andermal würde ich gern mit dir darüber plaudern. Aber jetzt – dreh dich um.«
Plötzlich begriff ich, dass in diesem schrecklichen Menschen etwas vorging. Er konnte den Propheten nicht erschießen, wenn er ihm in die Augen schaute. In Gedanken flehte ich Immanuel an: »Sprich weiter, hör nicht auf zu reden!«
Aber wie zum Trotz verstummte er.
Er hob die Hand, bewegte die offene Handfläche vor dem Gesicht des Mörders langsam von links nach rechts, und es geschah ein Wunder.
Der Mörder erstarrte, ließ den Revolver sinken und schaute wie gebannt auf die Hand des Propheten.
Ich habe schon einmal etwas über Hypnose gelesen und halte sie nicht für ein Wunder, aber hier geschah ein echtes Wunder, direkt vor meinen Augen.
Das Antlitz dieses Menschen veränderte sich. Die aufgedunsenen Wangen zogen sich zusammen, die Nase wurde kleiner und stupsiger, die Falten glätteten sich, und dann sah ich das Gesicht eines kleinen Jungen – das runde, niedliche, zutrauliche Gesicht eines siebenjährigen Leckermauls und Mamasöhnchens.
»Jascha, Jaschenka, was ist nur aus dir geworden?«, sagte Immanuel mit einer ganz zarten Stimme, die fast wie die Stimme einer Frau klang.
Ein Zucken lief über das Gesicht des Mörders, und das seltsame Bild verschwand. Es war wieder das faltige Gesicht eines Mannes, der ein schweres, sündiges Leben hinter sich hat. Aber die Augen waren immer noch weit geöffnet und kindlich.
Mit der rechten Hand, die wie vorher die Waffe umklammert hielt, machte er eine Art abwehrende Bewegung gegen Immanuel. Mit der anderen, leeren Hand schlug er in die Luft, als wollte er ein Gespenst oder eine Sinnestäuschung verscheuchen.
Dann drehte er sich um und stürzte Hals über Kopf aus der Gruft.
»Wird er nicht wiederkommen, um uns zu töten?«, fragte ich, verwirrt und erschüttert von dem, was ich gerade gesehen hatte. »Nein«, antwortete Immanuel. »Er hat jetzt genug anderes zu tun.«
»Woher wussten Sie, wie er heißt?«, fragte ich noch. »Heißt er wirklich Jascha?«
»Ich habe es gehört. Wenn ich einem Menschen ins Gesicht schaue, höre und sehe ich vieles, weil ich offen dafür bin, zu hören und zu sehen. Das war ein sehr interessanter Mensch. Ganz, ganz schwarz, aber doch mit einem kleinen weißen Fleckchen irgendwo. Ein winzig kleines Fleckchen gibt es bei jedem Menschen, genauso wie es bei sehr weißen immer wenigstens ein schwarzes Tröpfchen gibt. Sonst ist es für Gott nicht avantagelig.«
Genau so sagte er – »nicht avantagelig«.
Es ist mir vollkommen unmöglich, seine eigenartige Ausdrucksweise wiederzugeben, deshalb muss ich vereinfachen. Eigentlich ist Immanuels Sprache äußerst farbig. Das fängt schon damit an, dass er das R so lustig ausspricht. Seine Sprache ist eigentlich flüssig, aber er flicht gerne allerlei ulkige Ausdrücke ein, die er sich irgendwo angelesen hat, und zwar an passenden und unpassenden Stellen, wissen Sie, wie ein Bauer, der wahllos alles liest, was ihm in die Hände gerät, und es auf seine eigene Art versteht.
Als der schreckliche Mensch fort war, war ich noch minutenlang vollkommen außer mir, ich habe lauter Unsinn geplappert. Zum Beispiel fragte ich ihn: »Hatten Sie denn keine Angst, einfach so auf die erhobene Waffe zuzugehen?«
Seine Antwort war sehr ulkig. »Ach, das bin ich gewohnt«, sagte er. »Das ist eben meine Okkupation, mit den Miserablen zu reden.«
Sie werden es nicht glauben, aber ich verstand ihn. Das Wort Okkupation muss man im Sinne des französischen »occupation« auffassen, also etwa wie »Beruf« oder »Berufung«; wahrscheinlich hat er das in irgendeinem Buch aus dem achtzehnten Jahrhundert gelesen. Und das Wort »die Miserablen« hat ihm bestimmt einfach vom Klang her gefallen.
»Die guten Menschen«, sagte er weiter, »brauchen mich nicht, aber die schlechten – die ›Miserablen‹ – brauchen mich. Sie sind natürlich manchmal auch gefährlich, aber was soll man machen? Man geht zu ihnen, so wie ein Dompteur in den Löwenkäfig.« Hier wurde Immanuel plötzlich ganz lebhaft, und seine Augen fingen an zu leuchten. »Das hab ich mal in Perm gesehen, im Zirkus Ciniselli. So ein Dompteur, das ist vielleicht ein mutiger Kerl! Und so schön ist er! Der Löwe reißt das Maul auf, mit Zähnen drin wie Dolche, aber der Dompteur streicht sich bloß über den Schnurrbart und knallt mit der Peitsche!«
Schon hatte er seine Miserablen vergessen und plapperte wie ein Wasserfall über diesen Dressurmeister im Zirkus. Ich schaute ihn an, wie er vollkommen hingerissen gestikulierte, und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Von neuem kamen mir Zweifel.
Jetzt, da ich Ihnen beschrieben habe, wie Immanuel mit dem Mörder fertig wurde, und Sie begriffen haben, dass er tatsächlich ein außergewöhnlicher Mensch ist, ist es an der Zeit, das Thema anzusprechen, das ich bis zu diesem Moment gemieden habe, weil ich Sie nicht empören wollte.
Sie erinnern sich, als ich über meine Reise nach Sodom berichtete, schrieb ich: »Kaum hörte ich die Worte ›Freitag‹ und ›Garten‹, da fügte sich auf einmal eins zum anderen, da wusste ich, wo und wann ich Immanuel finden würde. Meine Hypothese hat sich bestätigt.«
Also, zunächst mal die Hypothese: Sie klingt so absurd, dass ich erst jetzt den Mut finde, sie Ihnen darzulegen.
Jetzt. Gleich schreibe ich es. Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen.
Also.
WAS WÄRE, WENN ES SICH UM EINE ZWEITE EPIPHANIE HANDELTE?
Ich sehe es bildlich vor mir, wie Ihre buschigen Augenbrauen sich zornig heben, und deshalb beeile ich mich, richtig zu stellen:
Nein, natürlich habe ich nicht gedacht, der »Prophet Manuila« sei Jesus Christus, der zweitausend Jahren noch einmal zu uns Menschen herabgestiegen wäre. Aber was wäre, wenn dieser Mensch selber aufrichtig glaubte, er sei Christus?
Sein ganzes Verhalten, all seine Worte und Taten, und schließlich auch sein Name (Wie Sie wissen, wurde doch der Name des Erlösers so angekündigt – Immanuel) brachten mich auf diesen Gedanken.
Nicht ein Prediger, der von Christi Wahrheit erfüllt ist, sondern ein Mensch, der sich als der Messias empfindet und daher in aller Ruhe die Prinzipien und grundlegenden Gesetze des Christentums umgestaltet, so, wie es Jesus auch getan hätte, der
selbst ein Gesetzgeber und Reformator war.
Während dieser Tage, da ich kreuz und quer durchs Heilige Land reiste, habe ich mit so diese fantastische Hypothese gewöhnt, dass sich dann und wann bei mir sogar der gotteslästerliche Gedanke einschlich: Vielleicht ist er ja wirklich Jesus?
Woher kam er. dieser »wilde Tatar«? Ist es denn möglich, dass ein Bauer aus dem Gouvernement Wjatka oder Sawolshsk die althebräische und die aramäische Sprache beherrscht?