Sie hätte schrecklich gern wenigstens einen klitzekleinen Blick in das Domizil des Scharlatans geworfen. Vielleicht könnte sie ja, im Vorbeigehen, ein ganz, ganz bisschen hineinschielen? Das konnte doch nicht so schlimm sein.
Sicherheitshalber sah sie sich um und überzeugte sich davon, dass keine Menschenseele in ihrer Nähe war, dann verlangsamte sie den Schritt, damit sie Zeit hatte, etwas ausgiebiger hineinzuspähen.
Bei Manuila brannte Licht – sehr praktisch.
Pelagia erreichte gemessenen Schrittes das Fenster, ließ die Pupillen in die rechten Augenwinkel wandern – und wäre um ein Haar über ihre eigenen Füße gestolpert.
Der Prophet war zu Hause und schien zu schlafen, aber nicht etwa wie ein normaler Mensch auf dem Sofa, sondern auf dem Fußboden, die Arme ausgebreitet wie ein Gekreuzigter. War das vielleicht so üblich bei denen, bei diesen »Findelkindern« ? Oder handelte es sich um irgendein seltsames Gelübde?
Die Nonne trat noch ein kleines Schrittchen näher ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen.
Das war ja sonderbar – auf dem Gesicht des Schlafenden, genau in den beiden Vertiefungen der Augen, lagen zwei glänzende weiße Eier. Pelagia schob den Bügel ihrer Brille höher auf die Nase und kniff die Augen zusammen, um diese Merkwürdigkeit besser betrachten zu können.
Gleich darauf hatten sich ihre Augen an das trübe Licht der Kabinenbeleuchtung gewöhnt, und jetzt sah sie ganz deutlich: Das waren gar keine Eier, das war etwas so Furchtbares, so Entsetzliches, dass Pelagias Mund sich ganz von selbst öffnete – mit der Absicht, den kurzen, einer Nonne würdigen Ausruf »O Gott!« hervorzustoßen, aber Stattdessen entfuhr ihm das beschämendste, allerbanalste Kreischen.
II
Wir lösen Rätsel
Wie man eine Leiche richtig fotografiert
»Die rechte Hand in Großaufnahme«, befahl Untersuchungsführer Dolinin dem Polizeifotografen und winkte gleichzeitig Pelagia mit dem Zeigefinger zu sich heran. »Sehen Sie sich das an, Schwester, das sind die Propheten von heute. Seine Seele schwebt schon im Äther, aber er greift immer noch nach dem Geld.«
Pelagia trat näher heran und bekreuzigte sich.
Der Anblick von Manuilas Leiche war unbeschreiblich abstoßend. Jemand hatte dem Möchtegern-Propheten den Hinterkopf mit einem so gewaltigen Schlage zerschmettert, dass ihm die Augäpfel aus den Höhlen gesprungen waren. Diese hatte die Nonne im Halbdunkel für Wachteleier gehalten.
Überall auf dem Kissen und sogar auf dem Teppich lagen Knochensplitter und Hirnpartikel. Für Pelagia war der Anblick der Leiche überdies sehr unangenehm, weil das Nachthemd des Toten hochgerutscht war und seinen blassen, behaarten Bauch und die Scham entblößt hatte, welche die Ordensschwester angestrengt mit ihrem Blick zu meiden suchte. In Manuilas verkrampfter Faust steckte ein abgerissenes Stück eines Hundertrubelscheins.
Ein greller Magnesiumblitz flammte auf. Aber der Untersuchungsführer war nicht zufrieden.
»Nein, nein, mein Guter, man muss von beiden Seiten des Apparates blitzen, sonst gibt es Schatten, und außerdem muss man das Magnesium in Streifen auslegen, nicht in Häufchen, dann brennt es länger. Ein Stativ für die Aufnahmen von oben haben Sie natürlich nicht dabei, stimmt’s? Oh, diese Provinzschlafmützen, meine Güte . . .«
Der Gerichtsmediziner hielt unterdessen den Kopf der Leiche an den Haaren und drehte ihn zur Seite.
»Was für ein Schlag!« Er bohrte mit dem Finger vorsichtig in einem Loch, das etwa die Größe eines Silberrubels hatte. »Er muss mit einer unglaublichen Kraft und Wucht ausgeführt worden sein! Wie von einem Schrapnell. Der Schlag ist fast bis zum dritten Gehirnventrikel vorgedrungen, die Form der Wunde ist exakt oval, die Ränder glatt. So eine Schlagverletzung habe ich noch nie gesehen, nicht einmal in einem Lehrbuch.«
»Jawohl, sehr ungewöhnlich«, stimmte Dolinin zu und beugte sich zu der Leiche hinunter. »Könnte es vielleicht ein Hammer gewesen sein? Jedenfalls eine satanische Kraft. Um die Augäpfel aus den Höhlen zu treiben, ich kann Ihnen sagen . . .«
In der Kabine roch es nach trocknendem Blut, Pelagia wurde ganz flau. Das Schlimmste war, dass der üble Geruch sich mit dem Duft des Eau de Cologne vermischte, das der Kapitän der »Stör« verströmte. Dieser war gemäß der Dienstvorschrift bei der Untersuchung zugegen, hielt sich jedoch diskret abseits und vermied es, den Spezialisten vor den Füßen herumzulaufen.
Die Schwester schloss die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit an. Nichts auf der Welt ist so furchtbar und bedrückend anzusehen wie das entweihte, aller Würde entbehrende Mysterium des Todes. Und dazu noch diese besudelte Banknote . . .
»An seinem Zeugungsorgan gibt es Spuren einer erst vor kurzem vorgenommenen Beschneidung«, berichtete der Doktor. »Die Narbe ist noch tiefrot, höchstens sieben oder acht Monate alt, würde ich sagen.«
Pelagia wartete, bis Arzt und Fotograf ihre Arbeit beendet hatten und sich von der Leiche zurückzogen, dann bat sie den Untersuchungsführer um die Erlaubnis, ein Gebet zu sprechen. Sie kniete nieder und bedeckte als Erstes die Blöße des Toten. Dann zog sie das weltliche Stückchen Papier aus seiner leblosen Hand. Sie hatte erwartet, dass die steif gewordenen Finger sich weigern würden, ihr Eigentum freizugeben, aber der Fetzen ließ sich erstaunlich leicht herausziehen.
Pelagia übergab das Beweisstück dem Untersuchungsführer und sagte:
»Seltsam. Hat er etwa so geschlafen, mit dem Geld in der Hand? Oder hat er versucht, es dem Verbrecher zu entreißen, als dieser ihm schon den Kopf eingeschlagen hatte?«
Dolinin schwieg einen Augenblick und schaute die bebrillte Ordensschwester interessiert an. Dann brummte er und rieb sich die Nasenwurzel kurz über dem Bügel seines Kneifers.
»In der Tat. Sie haben eine gute Beobachtungsgabe, merci vielmals für den Hinweis. Nach Aussage der Begleiter Manuilas befand sich das Geld – oder, wie sie sich ausdrückten, der ›Schatz‹ – in einer Schatulle unter seinem Kopfkissen . . . Die Schatulle ist natürlich verschwunden. Hm . . . Den Schädel bis zum dritten Gehirnventrikel eingeschlagen und dann den Mörder noch am Kragen packen – das wäre allerdings eine reife Leistung. Verzeichnen wir es vorläufig unter der Rubrik »ungelöste Rätsel‹«
Und tatsächlich schrieb er etwas in ein Lederbüchlein. Pelagia gefiel das: Der Mann zog keine übereilten Schlüsse.
Dolinin gefiel ihr überhaupt sehr gut, weil er seine Arbeit gründlich und mit Verstand erledigte – man sah sofort, dass er ein Mann war, der das Handwerk eines Detektivs verstand und liebte.
Mit seinem Untersuchungsführer hatte der Prophet Manuila also, sozusagen, Glück gehabt.
Das Werk lobt den Meister
Dabei hatte es zuerst noch ganz anders ausgesehen.
Auf die Schreie der Nonne hin kamen die Leute zum Kabinenfenster gelaufen und veranstalteten ein furchtbares Spektakel. Den größten Radau machten freilich die »Findelkinder«. Als sie erfuhren, dass ihr Prophet ermordet worden war, erhob sich ein Jammern und Wehklagen:
»Mama! Was für ein Unglück! Ochunwej! Hilfe! Elohim!« Am häufigsten aber fiel das Wort »Der Schatz! Der Schatz! Der Schatz!«
Dann erschien der Kapitän auf der Bildfläche, aber anstatt für Ordnung zu sorgen, machte er das Tohuwabohu erst vollkommen – sei es, weil er vor Schreck ganz aus dem Häuschen war oder infolge eines gewissen Mangels an Nüchternheit.
Jedenfalls verwandelte sich der Schiffsführer in einen Blitze schleudernden Zeus. Er postierte zwei Matrosen, mit Feuerlöschutensilien bewaffnet, als Wache vor der unglückseligen Kabine, befahl den Passagieren der ersten und zweiten Klasse, in ihren Unterkünften zu bleiben, sich mucksmäuschenstill zu verhalten und ja nicht die Nase aus der Tür herauszustrecken, scheuchte die Mannschaft vollzählig auf dem Achterdeck zusammen und stellte sie unter die Bewachung zweier rußverschmierter Heizer mit großen Schaufeln in den Händen. Er selbst warf sich in seine weiße Paradeuniformjacke, schnallte sich einen riesigen Revolver um die Hüfte und goss sich zwecks Vertilgung des Weindunstes eine ganze Flasche Eau de Cologne über den Leib.