Der Prokurator ist ein kluger Mann, und er kann auch sehr gut zuhören. Es war sehr angenehm und interessant, sich mit ihm zu unterhalten. Ich hatte mich ihm nicht zu erkennen gegeben, um ihn nicht zu betrüben – sein ganzes Zimmer (ein ziemlich großes und schönes Zimmer) ist nämlich voller Abbildungen des Gekreuzigten.
Über die Kirche sagte ich zu ihm, dass sie vollkommen überflüssig ist, und die Popen auch. Jeder muss seinen Weg selber gehen, und als Führer kann ihm dabei jeder gute Mensch dienen, manchmal sogar ein schlechter, so was kommt auch vor. Was für ein Gewerbe soll das denn sein – Pope? Woher soll man wissen, ob so einer ein guter oder ein schlechter Mensch ist? Und warum können nur Männer Popen sein ? Ist eine Frau nicht viel gütiger und selbstloser als ein Mann?
Über Gott sagte ich zu dem Prokurator, dass man IHN früher, in alten Zeiten, brauchte, um den Menschen Angst vor Gott einzuflößen. Genau wie in einer normalen Familie: Solange das Kind klein ist und Gutes und Schlechtes selbst noch nicht unterscheiden kann, müssen die Eltern Einfluss nehmen, und die Angst vor der Strafe hilft ihnen dabei. Aber im Laufe von zweitausend Jahren hat sich die Menschheit weiterentwickelt, sie fürchtet den Zorn Gottes längst nicht mehr, und deshalb muss man es jetzt anders machen. Heute muss man nicht mehr immerfort nach dem gestrengen allmächtigen Vater Ausschau halten, sondern soll Stattdessen in seine eigene Seele lauschen. Dort nämlich ist Gott, in der Seele des Menschen, und nicht irgendwo im Himmel auf einer Wolke. Ich sagte zu dem Prokurator: Siehst du, ich wandele auf der Erde, schaue mir die Menschen an und sehe, wie viel besser als früher sie geworden sind, so viel vernünftiger, gütiger, barmherziger. Sie sind noch nicht ganz erwachsen, aber auch nicht mehr unvernünftige Kleinkinder, wie zu Zeiten von Moses und Johannes dem Täufer. Wir brauchen heute einen anderen Bund zwischen Gott und den Menschen, einen ganz anderen.
Plötzlich machte mir der Greis ein Zeichen mit der Hand, ich solle schweigen. Er zog seine buschigen grauen Brauen zusammen und sah mir ganz lange ins Gesicht, und dann fragte er mit schriller Stimme: »Du bist es? Du?!« Und er antwortete sich selbst: »Du bist es . . .« Da begriff ich, dass er es erraten hatte.
»Warum bist du gekommen, um mich zu stören?«, sagte er. »Es ist für mich auch ohne dich schon schwer genug. Du täuschst dich in den Menschen, du verstehst sie nicht. Sie sind immer noch ohne jede Vernunft, sie brauchen einen strengen Hirten, sonst gehen sie zugrunde. Ich schwöre dir, der Mensch ist viel schwächer und erbärmlicher, als du denkst! Schwach und gemein ist er. Du bist zu früh gekommen.«
Ich wollte ihm erklären, dass ich es mir nicht ausgesucht hatte, herzukommen, aber er glaubte mir nicht. Er fiel auf die Knie nieder, faltete die Hände zusammen und flehte mich an. »Geh wieder dorthin, wo du hergekommen bist. Bei Christus dem Herrn, bitte ich dich . . . nein, beim Himmlischen Vater flehe ich DICH an!« Ich antwortete ihm ganz ehrlich, dass ich ja froh wäre, dorthin zurückzukehren, aber es ginge eben nicht.
»Ja, ja, ich weiß«, sagte er seufzend.
Er stand auf, lief im Zimmer auf und ab und sagte dann mit bitterer Stimme und so, als rede er mit sich selbst: »Ach, meine Seele, meine Seele . . . Aber es ist doch nicht um meinetwillen, sondern für das Wohl der anderen . . .« Dann läutete er nach seinen Dienern und gab Befehl, mich fortzubringen. Dabei wollte ich ihm noch so vieles sagen.«
Da haben Sie die Lösung unseres »Rätsels«, wie Sergej Sergejewitsch Dolinin sagen würde, Eminenz. Aber was fangen wir jetzt damit an, mit dieser Lösung?
Schon bedauere ich, dies alles aufgeschrieben zu haben. Sie, mit Ihrem unerschrockenen Charakter, werden am Ende den Verbrecher noch entlarven. Aber Sie werden damit nichts erreichen, man wird Sie nur für verrückt erklären.
Ich flehe Sie an, tun Sie nichts. Der »Prokurator« denkt, er habe seine Hand gegen Gottes Sohn selbst erhoben, und er ist bereit, dafür mit der Unsterblichkeit seiner Seele zu zahlen. Soll er zahlen. Aber nicht Ihnen und mir, sondern IHM.
Ach, ich sehe, es ist schon Abend! Vor meinem Fenster wird es dunkel. Ich habe den ganzen Tag an diesem Brief geschrieben, dabei habe ich so vieles noch nicht gesagt!
Bevor ich versuche, Ihnen das Allerschwierigste zu erklären, das, was ich selber nicht verstehe, will ich noch einige von Immanuels Bemerkungen für Sie aufschreiben, die mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Sehr überrascht war ich, als er sagte, er wisse nicht, ob es Gott gebe oder nicht – aber das sei auch gar nicht wichtig. Was soll das, sagte er, dürfte der Mensch dann etwa jede Schweinerei machen, wenn es Gott nicht gäbe? Wir sind doch keine kleinen Kinder, dass wir uns nur in Gegenwart von Erwachsenen anständig benehmen.
Dann sagte er noch: »Strebe nicht danach, die ganze Welt zu lieben, dafür hat kaum jemand Liebe genug. Wenn du einen hohen Turm errichten möchtest, setz dich zuerst hin und rechne aus, ob deine Mittel ausreichen, den Bau auch zu vollenden. Viele nehmen sich vor, die ganze Welt und alle Menschen zu lieben, und wissen doch nicht, was Liebe überhaupt ist, sie vermögen nicht einmal sich selbst zu lieben. Verwässere deine Liebe nicht, trage sie nicht zu dünn auf, dass sie nicht ist wie ein winziges Flöckchen Butter auf einem großen Pfannkuchen. Liebe deine Verwandten und Freunde, aber dafür aus ganzem Herzen. Und wenn deine Kraft nicht ausreicht, dann liebe wenigstens dich selbst – aber aufrichtig und beständig. Bleibe dir selbst treu. Das heißt, bleibe Gott treu, denn Er ist dein wahres ›Ich‹. Und wenn du dir selber treu bist, wirst du dich schon allein dadurch retten.«
Aber über das, was mich am meisten interessierte, konnten wir leider nicht bis zu Ende reden. Ich fragte ihn, ob er an ein Leben im Jenseits glaube, ob es nach dem Tod etwas gebe oder nicht. Er wunderte sich: »Woher soll ich das wissen? Wenn ich gestorben bin, dann werde ich es erfahren. Solange man hier lebt, muss man an dieses Leben denken, nicht an das andere. Obwohl es natürlich interessant ist, ein wenig zu träumen. Mir scheint, dass es ein anderes Leben geben muss, dass der Tod des Leibes nicht das Ende des Menschen ist, sondern vielmehr eine neue Geburt.« Hier stockte er und sagte dann: »Ich habe darüber sogar eine eigene Hypothenuse. . .« »Eine Hypothese?«, erriet ich, weil ich ja wusste, dass er die »gebildeten« Wörter des Öfteren verwechselte. »Bitte erzähl mir davon, es ist sehr wichtig für mich!« Immanuel setzte gerade zu einer Antwort an: »Ich glaube, nein, ich bin überzeugt davon, dass jede Seele im Augenblick des Todes . . .« Weiter kam er nicht, denn in dem Moment riss sich der schreckliche Hahn los und rannte über ein Stück Brachland davon! Wir mussten ihn jagen und einfangen. Stellen Sie sich vor, das gab vielleicht ein Spektakel! Ein mörderisches Kikeriki, pfeifende und johlende Gaffer, und die Federn flogen nach allen Seiten. So habe ich nicht mehr erfahren, was mir Immanuel über das Jenseits offenbaren wollte.
***
Jetzt, da ich allein bin, weiß ich, dass ich die wertvollen Stunden, die wir zusammen verbrachten, leichtfertig vergeudet habe. Ich habe selber viel zu viel geplappert, anstatt ihm zuzuhören. Manchmal redete ich über irgendwelche Nichtigkeiten, manchmal sagten wir auch einfach gar nichts.
Wie sehr unterscheidet sich der heutige Tag von gestern! Wie unnötig ist alles, worauf mein Blick fällt! Wie verwaist ist alles um mich herum! Die Welt scheint mir plötzlich leer.
Warum habe ich ihn fortgehen lassen? Warum habe ich ihn nicht zurückgehalten?