Die Anlegestelle Ust-Swijashsk passierten sie vollkommen fahrplanwidrig ohne Halt und gingen erst auf Höhe der Kreisstadt, in gehöriger Entfernung von der Anlegestelle, vor Anker. Dort wurde der erste Gehilfe des Kapitäns zu den Behörden abkommandiert – per Ruderboot.
Eine Stunde später sahen die Passagiere der Kabinen, die an der Steuerbordseite gelegen waren, wie sich durch den Abendnebel, der sich über dem Wasser ballte, ein voll besetztes Ruderboot näherte. Die Insassen waren zum größten Teil Uniformierte, es befanden sich aber auch mehrere Zivilisten darunter.
Zur Durchführung der Ermittlung kam nicht etwa irgend so ein x-beliebiger Reviervorsteher, von wegen! Nicht einmal ein Kommissär! Das heißt, selbstverständlich war auch ein Kommissär dabei, und alle möglichen anderen Dienstgrade einschließlich des Chefs der Kreispolizei, aber die waren nur Nebenfiguren, die Hauptperson war ein hagerer Herr in Zivil. Seine klugen, wachsamen Augen funkelten kalt hinter einem Kneifer, und immer wieder strich er sich mit einer schlanken Hand über seinen Spitzbart. Auf dem Revers seines Gehrocks glänzte das Abzeichen einer Universität.
Wie sich herausstellte, war dieser Zivilist ein richtig großes Tier, ein Angehöriger des Innenministeriums. Seine Name war Sergej Sergejewitsch Dolinin. Wie später von den ortsansässigen Polizeibeamten zu erfahren war, unternahm Seine Exzellenz gerade eine wichtige Inspektionsreise durch das Gouvernement Kasan. Als er von dem Mord Kenntnis erhielt, der sich auf dem Dampfer der Schifffahrtsgesellschaft »Nord« ereignet hatte, wünschte er augenblicklich, die Leitung der Ermittlungen persönlich in die Hand zu nehmen.
Im Gespräch mit Seiner Eminenz Mitrofani (den er unverzüglich aufsuchte, als er den Namen dieses hohen Würdenträgers auf der Passagierliste fand) erklärte Sergej Sergejewitsch seinen Eifer mit der besonderen Bedeutung der Person des Ermordeten:
»Dieser Herr Manuila war eine höchst skandalöse Erscheinung. Ich wage zu behaupten, Eminenz, dass dieser Vorfall ganz Russland in Aufruhr bringen wird. Das heißt, sofern . . .« Dolinin unterbrach sich, offenbar wollte er seinen Gedanken für sich behalten – was dieses »sofern« bedeuten sollte, blieb unausgesprochen.
Pelagia, die bei diesem Gespräch zugegen war, glaubte, bei der Bemerkung über den »gesamtrussischen Aufruhr« in den grauen Augen des Untersuchungsführers ein kurzes Aufblitzen bemerkt zu haben. Nun ja, Ehrgeiz ist für einen Staatsdiener eine verzeihliche Sünde, das heißt vielleicht sogar überhaupt keine Sünde, insofern sie ja dem Fleiße förderlich ist.
Folglich war anzunehmen, dass der Besuch Sergej Sergejewitschs bei Bischof Mitrofani durchaus nicht aus Höflichkeit erfolgte, sondern einen ganz anderen, nämlich rein pragmatischen Grund hatte. Wie dem auch sei, kaum hatte man den Austausch der obligaten Höflichkeitsfloskeln beendet, da wandte sich Dolinin an Pelagia und fragte in sachlichem Ton: »Sie sind sicher die Nonne, die die Leiche gefunden hat? Ganz vortrefflich. Mit Erlaubnis Seiner Eminenz« – eine knappe Verbeugung in Richtung Mitrofani – »muss ich Sie leider bitten, Schwester, mich zum Ort des Vergehens zu begleiten.«
Und so kam es also, dass Pelagia sich jetzt hier in dieser abscheulichen Kabine befand, in der es penetrant nach Blut und blumigem Eau de Cologne roch.
Wäre da nicht dieser Geruch gewesen und nicht die Gegenwart des entstellten Körpers, es wäre ihr ein reines Vergnügen gewesen, Sergej Sergejewitsch bei seiner gedeihlichen, äußerst professionellen Arbeit zuzuschauen.
Er begann damit, dass er mit raschen Strichen den Grundriss der Kabine in seinem Notizbuch festhielt, während er gleichzeitig der Schwester ohne Unterlass Fragen stellte:
»War die Ecke des Teppichs umgeschlagen? Sind Sie sicher? Wie weit war das Fenster geöffnet? Sicher? Die Tagesdecke lag auf dem Fußboden?«
Die Bestimmtheit, mit der ihre Antworten kamen, stellte den Untersuchungsführer sehr zufrieden. Er sprach ihr sogar ein Lob aus:
»Eine Zeugin wie Sie findet man selten. Sie haben ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis.«
Pelagia sah sich die Zeichnung des Untersuchungsführers an, die recht ungewöhnlich aussah, und fragte jetzt ihrerseits:
»Was ist das?«
»Das nennt man ›Kroki‹«, antwortete Dolinin, dessen Bleistift immer noch flink über das Papier huschte. »Das ist eine Skizze des Tatortes. Hier ist der Maßstab in Metern. Die Buchstaben geben die Himmelsrichtungen an, das ist unbedingt erforderlich. Da wir uns hier auf einem Schiff befinden, tritt an die Stelle des Nordens der Bug (»B«), und statt Osten setzen wir Steuerbord (»S«).«
»Wissen Sie«, sagte da Pelagia, »der Stuhl stand anders. Als ich in die Kabine hineinschaute, war er da drüben.« Sie zeigte Dolinin, wie der Stuhl gestanden hatte. »Und die Papiere auf dem Tisch lagen in einem ordentlichen Stoß, aber jetzt sind sie ganz durcheinander.«
Sergej Sergejewitschs Kopf ging ein paar Mal hin und her, dann wies er mit dem Zeigefinger auf den Kapitän:
»Haben Sie hier eigenmächtig irgendwas verändert, Verehrtester?«
Der schluckte und hob schuldbewusst die Hände.
Der Untersuchungsführer sah die auf dem Tisch verstreuten Blätter durch und nahm dann eines davon in die Hand; es war ganz mit ungelenken Druckbuchstaben bedeckt. Er las:
»›Baruch ata Adonaj Elohejnu melech ha-olam . . .‹« Er legte das Blatt zur Seite. »Anscheinend irgendein jüdisches Gebet.«
Pelagia, die, nachdem sie die Blöße des Toten bedeckt hatte, allmählich ihre Fassung wiedergewann, sah sich inzwischen weiter um.
Sie war selbst ganz erstaunt, wie viel sie sich in diesem kurzen Augenblick, bevor sie loskreischte, eingeprägt hatte.
»Und diese Pfeife war nicht da«, sagte sie und zeigte auf eine Meerschaumpfeife, die auf dem Teppich lag.
Neben die Pfeife hatte Dolinin bereits ein kleines Schildchen mit der Ziffer 8 gelegt, und über das Beweisstück selber hatte er aus irgendeinem Grund ein umgedrehtes Einmachglas gestülpt.
»Sind Sie sich dessen ganz sicher?«, fragte er verstimmt.
»Ja, sie wäre mir ganz bestimmt aufgefallen.«
»Wie bedauerlich. Sie haben mir das allerwichtigste Indiz gemopst. Und ich Dummkopf habe es extra zugedeckt, damit nicht irgendwelche mikroskopisch kleinen Partikel weggepustet werden können.«
Sergej Sergejewitsch winkte den Kapitän heran und fragte ihn, ob er die Pfeife kenne.
Der versicherte bereitwillig:
»Jawoll! Die Pfeife gehört Bootsmann Sawenki. Ich habe ihn mitgenommen, damit er mir in die Ecken leuchtet. Er hat sie wohl fallen lassen.«
»Schwester, Sie sind ein Schatz!«, rief Dolinin enthusiastisch. »Mit Ihnen habe ich wirklich einen Glückstreffer gelandet. Wollen Sie nicht noch ein bisschen bleiben, meine Liebe? Es würde mich nicht wundern, wenn Ihnen noch etwas auffiele.«
Von da an wandte sich der Untersuchungsführer, der die Angewohnheit besaß, laut zu denken, nur noch an Pelagia; die übrigen Anwesenden einschließlich des Chefs der Kreispolizei, würdigte er keiner Beachtung mehr. Anscheinend fand es Sergej Sergejewitsch interessanter – oder sagen wir: exotischer –, seine rhetorischen Fragen an die aufgeweckte Nonne zu richten.
»Was meinen Sie, Schwester, wollen wir uns mal seine Kleidung anschauen?«, sprach er vor sich hin, während er die Leiche untersuchte: Nankinghosen, Weste, langer Kittel aus weißem Stoff mit einem blauen Streifen darauf. »Ts-so . . . Die Hose trägt kein Etikett. Billiger Plunder, wahrscheinlich auf einem Basar gekauft. Aber gereist ist er erster Klasse, inklusive ›Schatz‹. Ein kleiner Geizkragen . . . Was haben wir denn da auf dem Hemd? Etwa ein Wäschezeichen? Was sagen Sie dazu, Schwester? . . . Ganz richtig, unser Prophet hat bestimmt nicht die Dienste einer Wäscherei in Anspruch genommen . . . Die Stiefel sehen wir uns später an, die werden wir aufschneiden müssen . . .«