Pelagia widersprach nicht. Sergej Sergejewitschs Version schien ihr überzeugender als ihre eigene. Also war dieses »Rätsel« wohl doch gelöst.
Aber sehr bald sollten weitere auftauchen.
Der Passagier aus der Dreizehn
»Ganz wie Sie wollen, aber trotzdem hat er dem Toten das Hemd hochgeschoben«, sagte Pelagia. »Haben Sie sich die Falten im Stoff mal genauer angesehen? Sie bilden eine Art ›V‹ über der Brust. Das kann nicht durch den Sturz verursacht worden sein.«
»Tatsächlich?«, sagte Dolinin und betrachtete die Leiche, aber die Ordensschwester hatte in ihrer Tugendhaftigkeit das Hemd schon zurechtgezogen, sodass es keine Falten mehr gab.
Die Schwester ließ sich dadurch nicht in Verlegenheit bringen.
»Dann sehen Sie halt auf den Fotografien nach. Der Mörder war keineswegs von seiner Tat in Angst und Schrecken versetzt, im Gegenteil, er wollte sich noch einen üblen Scherz erlauben . . . Eine solche Handlungsweise setzt eine besondere charakterliche Veranlagung voraus.«
Sergej Sergejewitsch schaute der pedantischen Zeugin mit höchster Aufmerksamkeit in die Augen.
»Ich habe das Gefühl, Sie meinen damit etwas ganz Bestimmtes. Haben Sie jemand Konkretes in Verdacht?«
Die Schwester fühlte sich durchschaut und senkte den Blick. Sie hatte keinen vernünftigen Grund, jemanden zu verdächtigen, sie konnte keinen Grund haben. Aber dieser garstige Streich, den sich der Mörder mit dem geschändeten Leib erlaubt hatte, und vor allem die aus den Höhlen getretenen Augäpfel erinnerten sie an eine andere böse Posse ganz ähnlicher Art. Sollte sie davon erzählen oder lieber nicht?
»Nun?«, drängte Dolinin.
»Nicht gerade einen Verdacht . . .«, sagte die Nonne zögernd. »Es gibt da bloß einen Passagier, der . . . so ein großer Herr mit gezwirbeltem Schnurrbart und Stulpenstiefeln . . . Außerdem hat er noch ein Glasauge . . . Ich wüsste wirklich gern, wer er ist. . .«
Der Untersuchungsführer sah Pelagia unter gerunzelten Brauen hervor an, als wollte er irgendetwas Unausgesprochenes von ihrem Gesicht ablesen.
»Groß gewachsen, gezwirbelter Schnurrbart, Stulpenstiefel, künstliches Auge?«, wiederholte er die Personenbeschreibung und drehte sich zum Kapitän um. »So jemand an Bord?«
»Jawohl! Kabine Nummer dreizehn, Herr Ostrolyshenski, reist von Nischni Nowgorod nach Kasan.«
»Nummer dreizehn?«
Dolinin machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Kabine.
Die Zurückgebliebenen sahen sich an, enthielten sich aber jeglicher Kommentare oder Meinungsäußerungen.
Der Kapitän füllte Wasser aus einer Karaffe in ein Glas, wischte den Rand des Glases mit einem Tuch ab und trank in durstigen Zügen; dann goss er gleich noch einmal nach. Die anderen sahen zu, wie sein Adamsapfel über dem Kragen der Uniformjacke hektisch auf und nieder hüpfte.
Wie furchtbar, dachte Pelagia. Ich habe einen Menschen leichtfertig in Verruf gebracht . . .
Der Kapitän hatte das zweite Glas heruntergestürzt und machte sich gerade an das dritte, da wurde die Tür ungestüm aufgerissen. Dolinin stand auf der Schwelle.
»Haben Sie Befehl gegeben, dass alle Passagiere in ihren Kabinen zu bleiben haben?«, fuhr er den Kapitän an.
»Jawohl.«
»Und warum ist Passagier Nummer dreizehn dann nicht in seiner Kabine?«
»Was soll das heißen – nicht in seiner Kabine? Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie Herr Ostrolyshenski hineinging! Ich habe ihm noch persönlich gesagt, dass er seine Kabine nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis verlassen darf!«
»So, gesagt haben Sie’s ihm! Sie hätten einen Matrosen im Gang postieren müssen!«
»Aber das ist völlig unmöglich! Erlauben Sie, ich . . .«
Der Kapitän stürzte zur Tür.
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte Sergej Sergejewitsch und verzog despektierlich den Mundwinkel. »Ich bin gerade eben dort gewesen. Das Gepäck ist noch da, aber der Passagier ist verschwunden. Niemand darf die Kabine betreten, es darf nichts berührt werden. Ich habe einen Polizisten vor der Tür postiert.«
»Ich verstehe nicht . . .«, sagte der Kapitän und machte eine hilflose Geste.
»Das ganze Schiff muss durchsucht werden!«, befahl Dolinin mit stahlharter Stimme. »Vom Schornstein bis zum Kohlenbunker! Hurtig!«
Der Kapitän und der Polizeichef stürzten aus der Kabine, der Untersuchungsführer aber wandte sich der Nonne zu und sagte in schon einem ganz anderen Tonfall, wie zu einem Gleichgestellten:
»Ihr Glasauge hat sich absentiert. Da haben Sie, Mademoiselle Pelagia, Rätsel Nummero zwei.«
Die Schwester fühlte sich durch das ironische »Mademoiselle« nicht im Geringsten verletzt, sie spürte, dass die ungezwungene Anrede nicht spöttisch, sondern als Zeichen von Sympathie gemeint war.
»Das ist kein Rasin«, fuhr der Untersuchungsführer nachdenklich fort. »Die kaufen niemals ein Billett, schon gar nicht erster Klasse. Ich vermute, es handelt sich bei dieser Person um einen Raben. Das ist eher deren Stil.«
»Ein ›Rabe‹ – ist das ein Bandit?«
»Richtig. Sehr wahrscheinlich gehört er irgendeiner ehrwürdigen Flussbande an. Vielleicht ist er aber auch ein Einzelgänger, einsame Wölfe sind keine Seltenheit bei denen.«
Das verdächtige Verschwinden des Einäugigen erlöste Pelagia von ihren Schuldgefühlen, und sie wurde wieder kühner.
»Dieser Mensch sah wirklich wie ein Räuber aus, wie ein großes Raubtier, wissen Sie, größer als ein Wolf, vielleicht wie ein Tiger oder ein Leopard.«
Kaum hatte sie das gesagt, schämte sie sich auch schon für ihre übertriebene Ausdrucksweise. Schnell ging sie zu einem sachlichen, nüchternen Ton über:
»Aber eines verstehe ich nicht. Wenn der Mord von einem Banditen großen Kalibers begangen wurde, was ist dann mit diesem Sack, diesem Beutesack? Warum sollte so einer solchen Kleinkram stehlen?«
»Das ist ein Rätsel«, gab Dolinin zu. »Unzweifelhaft ein Rätsel.«
Und er machte eine Notiz in seinem Büchlein.
Blätterte die voll geschriebenen und voll gemalten Seiten durch. Resümierte.
»Die vorläufige Untersuchung ist damit abgeschlossen. Fassen wir zusammen: Wir haben, dank Ihrer Mithilfe, liebe Schwester, einen Hauptverdächtigen. Die Personenbeschreibung liegt vor (ich werde sie später nach Ihren Angaben vervollständigen), und einen Namen haben wir auch – obwohl der sehr wahrscheinlich falsch ist. Kommen wir also zum Opfer.«
Dolinin beugte sich über die Leiche und runzelte unzufrieden die Stirn.
»Sein Gesicht ist vollkommen entstellt, es wird nicht leicht sein, ihn zu identifizieren.«
»Warum muss er denn noch identifiziert werden?«, wunderte sich die Nonne. »Er reiste doch in Begleitung mehrerer Personen, die ihn identifizieren können.«
Mit einem Seitenblick auf den Arzt und den Fotografen, die ihrem Gespräch zuhörten, sagte Sergej Sergejewitsch:
»Doktor, gehen Sie doch bitte in die Kabine des Kapitäns, und fassen Sie dort Ihren Bericht ab. Beschränken Sie sich dabei bitte auf das Wesentliche. Und Sie« – an den Fotografen gewandt – »bitte ich, beim Bootsmann eine Rolle Schnur zu besorgen. Und lassen Sie sich auch gleich ein Messer geben – ein Taumesser, der Bootsmann weiß Bescheid.«
Und erst als er mit Pelagia allein war, beantwortete er ihre Frage – wobei er die Stimme zu einem vertraulichen Raunen senkte.
»Wissen Sie, Mademoiselle, warum ich solchen Wert darauf lege, diesen Mord selber aufzuklären?«
Das war offensichtlich eine rhetorische Frage, und Dolinin hätte sicher, nach einer angemessenen Kunstpause, die Antwort selber geliefert, indes nahm sich die Nonne, der der kluge Untersuchungsführer immer besser gefiel, die Freiheit heraus (immerhin war sie ja jetzt schon nicht mehr »Schwester«, sondern »Mademoiselle«) und sagte:
»Ich nehme an, Ihre Inspektion ist Ihnen langweilig geworden, und Sie wollten sich wieder mal mit etwas Lebendigerem beschäftigen.«