Sergej Sergejewitsch lachte kurz auf, und sein nüchternes, verbittertes Gesicht wirkte für einen Moment weicher und jünger.
»Das ist, zugestandenermaßen, vollkommen richtig, Ihr Scharfsinn versetzt mich ein weiteres Mal in Entzücken. Wissen Sie, ich kann mich in der Tat an diese Verwaltungsarbeit nicht so recht gewöhnen. Dabei beneiden mich die Kollegen um meine steile Karriere – mit grade mal vierzig Jahren schon im Generalsrang, Mitglied des Ministerrats und so weiter. Aber ich sehne mich nach meiner früheren Tätigkeit zurück. Bis vor einem Jahr, müssen Sie wissen, war ich nämlich noch Untersuchungsführer für besonders wichtige Fälle, und zwar, wie ich zu behaupten wage, nicht der Untalentierteste.«
»Das sieht man. Und dann hat man Sie für Ihre hervorragenden Leistungen im Dienst befördert?«
»Wenn es denn so wäre.« Dolinin lachte. »Nein, ein einfacher Untersuchungsführer, selbst wenn er ein noch so kluges Köpfchen ist und sich tausend Paar Hosen an den Knien durchscheuert und tausend Gehröcke an den Ellenbogen obendrein, wird sich im Leben nicht zu derartigen Höhen emporschwingen. Große Karriere macht man anders.«
»Aha, und wie?«
»Mit Papier, teuerste Schwester. Das Papier ist der fliegende Teppich, auf dem man sich in unseren heimischen Gefilden zu den höchsten Gipfeln erheben kann. Einen anderen Weg gibt es nicht. Als ich zur Feder griff, da dachte ich allerdings keinen Augenblick lang an meine Karriere, das können Sie mir glauben. Im Gegenteil, ich hoffte nur, dass man mich für meine Unverfrorenheit nicht am Kragen packen und im hohen Bogen vor die Tür setzen würde. Aber es war mir einfach unerträglich, diesen ganzen hinterwäldlerischen Schlendrian weiter mit anzusehen. Ich verfasste ein Reformprojekt und schickte es an einige hoch gestellte Persönlichkeiten der Regierung, in deren Händen die Wahrung von Recht und Gesetz liegt. Ich dachte, komme, was da kommen will. Innerlich stellte ich mich schon darauf ein, mir eine neue Tätigkeit zu suchen, im anwaltlichen Sektor. Und plötzlich wird der kleine, nichtswürdige Diener Gottes auf den Olymp gerufen. Dort klopft man ihm auf die Schulter und sagt: Bravo, auf so einen wie dich haben wir schon lange gewartet.« Dolinin machte eine ulkige Geste, als kapituliere er vor den unvorhersehbaren Launen des Schicksals. »Ich wurde damit beauftragt, die Zusammenarbeit von polizeilichen und gerichtlichen Ermittlungsorganen zu reorganisieren und zu reformieren. Selber schuld, sagt man dazu wohl. Und so irre ich jetzt wie der ewige Jude durch Stadt und Land. Das Reorganisieren kommt mir allmählich schon zu den Ohren heraus. Aber bitte denken Sie nicht, Mademoiselle Pelagia, Dolinin wollte sich auf einmal drücken wie ein Gymnasiast, der eine langweilige Schulstunde schwänzt. Mitnichten, ich bin ein verantwortungsvoller Mensch, ich habe keine Neigung zu Bubenstreichen. Nein, mit diesem Möchtegern-Propheten Manuila hat es vielmehr eine ganz besondere Bewandtnis: Er wurde nämlich schon zum zweiten Male ermordet.«
»Wie bitte?«, ächzte Pelagia.
Der verhexte Manuila
»Tja, es gibt wohl so einige Leute, die dieses Subjekt nicht besonders ausstehen können.«
Die Schwester nickte.
»Das habe ich schon mitbekommen.«
»Das erste Mal wurde Manuila vor drei Wochen im Gouvernement Twer ermordet.«
»Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht. . .«
Dolinin winkte ab: Unterbrechen Sie mich nicht, hören Sie einfach zu.
»Bei dem Opfer handelte es sich, wie sich herausstellte, um einen gewissen Petrow oder Michailow, ich entsinne mich grad nicht. Er war ein ›Findelkind‹, also ein Anhänger Manuilas und ihm äußerlich sehr ähnlich. Von daher rührt auch die Legende von Manuilas Unsterblichkeit.«
»Und wenn der da plötzlich auch jemand anderes ist . . .?«, sagte Pelagia und deutete auf den Toten.
»Eine durchaus begründete Frage. Mir läge sehr daran, das aufzuklären. Die Personenbeschreibung stimmt überein, soweit ich mich erinnere. Nur schade, dass wir keine Fotografie des Propheten besitzen. Aber Manuila war nicht vorbestraft, unsere Behörde hatte also keine Veranlassung, seine reizenden Gesichtszüge zu verewigen. Und was seine Reisegenossen angeht . . . Ich habe angeordnet, sie einstweilen in einer Kammer einzuschließen. Aber was sollen uns die schon nutzen, diese Traumtänzer. Man weiß nicht, ob sie uns nicht irgendwas vorlügen, und es kann sogar sein, dass sie sich selber über die Identität des Opfers täuschen!«
»Was für eine merkwürdige Geschichte!«
»Tja, allerdings . . . nicht nur merkwürdig, sondern auch ein Politikum, und das ist viel wesentlicher.« Sergej Sergejewitsch wurde ernst. »Der Mord an einem Propheten, insbesondere an einem ›unsterblichen‹, ist eine Staatsangelegenheit. Sämtliche Zeitungen werden sich darauf stürzen, und nicht nur die russischen. Umso wichtiger ist es, zweifelsfrei festzustellen, ob es sich tatsächlich um Manuila handelt oder wieder nur um einen Doppelgänger.«
In diesem Moment kam der Fotograf mit der Schnur und einem kurzen, sehr scharfen Messer zurück.
Der Untersuchungsführer rief die Polizisten aus dem Gang herein und erteilte mit einem Nicken in Richtung des Toten eine höchst sonderbare, geradezu lästerliche Anordnung:
»Anziehen, auf den Stuhl setzen und mit der Leine festbinden. Hurtig!«, blaffte Dolinin die verschüchterten Beamten an, der Nonne aber erklärte er: »Die Leiche muss in einen Zustand gebracht werden, der die Identifizierung ermöglicht. Es handelt sich um eine völlig neue Methode – meine eigene Erfindung, nebenbei bemerkt.«
Während die Polizisten ächzend und stöhnend die noch nicht erstarrten Glieder des Toten in Hosenbeine und Hemdärmel steckten, trennte Dolinin mit dem Messer geschickt die Sohlen von den Stiefeln des Propheten und schnitt die Schäfte auf.
»Ts-so . . .«, brummte er zufrieden und zog irgendwelche Papiere aus dem aufgeschlitzten Leder, sah sie flüchtig durch und zuckte kurz mit den Achseln. Bedauerlicherweise zeigte er sie seiner neuen Busenfreundin nicht, und Pelagia genierte sich zu fragen, obwohl sie doch furchtbar neugierig war.
»Seid ihr fertig?«, fragte Sergej Sergejewitsch die Polizisten. »Die Augen, pfui Teufel, diese Augen.«
Die Schwester riskierte unvorsichtigerweise einen Blick – und kniff schnell die Augen zu. Die Augäpfel hingen dem Toten bis auf die Wangen herab, der Anblick war unerträglich.
»Die Gummihandschuhe aus meinem Koffer«, befahl die sachliche Stimme des Untersuchungsführers. »Ssoodele, ausgezeichnet, die Glupschäuglein sind wieder da, wo sie hingehören. Jetzt die Watte! Nein, nein, nur zwei kleine Bäusche, und ein wenig zusammenrollen, bitte . . . Jetzt unter die Lider damit, unter die Lider, damit sie geöffnet bleiben, ja, sehr gut. . . Tss, die Hornhaut ist schon getrocknet und hat sich getrübt. Da sind ein Fläschchen Nitroglyzerin und eine Spritze, bringen Sie sie mir her . . . Ins rechte . . . ins linke . . . Upps. Jetzt noch die Haare kämmen . . . einmal kurz mit einem feuchten Tuch drüber . . . Fertig. Sie können ruhig die Augen auf machen, Mademoiselle, keine Angst!«
Pelagia blinzelte vorsichtig durch ihre ängstlich zusammengepressten Lider zu dem Toten hin und war überwältigt.
Vor ihr saß – wenn auch in einer etwas unnatürlichen Haltung und mit zur Seite hängendem Kopf – ein klapperdürrer, bärtiger Mann, der vollkommen lebendig wirkte und sie mit glänzenden Augen intensiv anstarrte. Gekleidet war er in Hemd, Weste und Hosen. Sein Bart und das lange Haupthaar waren sorgfältig gekämmt.
Die plötzliche Auferstehung des unlängst Dahingegangenen war für die Schwester so unerwartet, dass sie vor Schreck einen Schritt zurückwich.
Sergej Sergejewitsch lachte zufrieden.
»Na also, jetzt kann man Monsieur Scheluchin auch fotografieren.«
»Wie haben Sie ihn genannt?«, fragte Pelagia.