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»So, wie es in seinem Pass steht.« Der Untersuchungsführer las von dem Papier ab, das er aus dem Stiefelschaft gezogen hatte. »Pjotr Saweljew Scheluchin, 38 Jahre, orthodoxen Glaubens, Bauer aus dem Dorfe Stroganowka, Bezirk Stariza, Kreis Gorodez, Gouvernement Sawolshsk.«

»Aber das ist ja bei uns!«, rief die Schwester verblüfft aus.

»Manuila soll allerdings aus dem Gouvernement Wjatka gebürtig sein. Jedenfalls ist er dort zum ersten Mal als Prediger aufgetreten. Die ›Findelkinder‹ sind übrigens davon überzeugt, ihr Prophet sei im Heiligen Land geboren worden und werde bald dorthin zurückkehren. Tatsächlich hatte Scheluchin ein Billett bis Jaffa . . .«

Fauchend flammte das Magnesium auf.

»Noch einmal von vorn. Dann im Dreiviertelprofil von rechts und von links und beide Profile«, ordnete Dolinin an. Er betrachtete den zurechtgemachten Toten mit einem skeptischen Blick und seufzte. »Mittelgroß, gewöhnliches Gesicht, Haare dunkelblond, Augen blau, hagerer Körperbau, keine besonderen Kennzeichen. Diese Beschreibung trifft auf ein Drittel aller russischen Männer zu, mindestens. Nein, Herrschaften, so geht das nicht. Ich brauche hundertprozentige Klarheit.« Er runzelte die Stirn und dachte nach. Zupfte sich am Bart. Ruckte entschlossen mit dem Kopf.

»Schwester, von hier bis Sawolshsk sind es mit dem Schiff etwa zwölf Stunden, ist das richtig? Und wie lange braucht man von dort aus bis Gorodez?«

»Noch einmal zwei Tage auf dem Wasserweg. Aber der Kreis Gorodez ist sehr weitläufig, und Stroganowka liegt direkt am Ural. Der Weg dorthin führt durch dichten Wald. Ich war einmal mit Seiner Eminenz in dieser Gegend, wir haben die Raskolniki in ihren Klausen besucht, wir wollten die dortigen Einsiedler davon überzeugen, dass sie keine Angst vor der Obrigkeit haben müssen . . .«

»Ich werde hinfahren«, erklärte Sergej Sergejewitsch, und in seinen Augen blitzte die Abenteuerlust auf. »Der Fall ist in der Tat von höchstem gesellschaftlichen Interesse. Ein Dolinin ist am Tatort zugegen und soll der Sache nicht auf den Grund kommen? Ausgeschlossen. Ich schicke dem Minister ein Telegramm: Wegen außergewöhnlicher Umstände wird die Inspektionsreise unterbrochen. Er wird nur froh sein, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war.«

III

Struk

Selbst schuld

Drei Tage lang fuhren sie auf einem Lastkahn den Fluss hinauf und kamen nach Gorodez, einem großen altgläubigen Kirchdorf, wo die Weiber in ihren weißen Kopftüchern sich über die linke Schulter spuckten, sobald sie Pelagias Kutte erblickten. Dort übernachteten sie und setzten die Reise am nächsten Tag auf dem Landwege fort, durch den Wald.

Der Wald hatte keinen Namen, er hieß einfach »Der Wald«.

Hunderte von Werst zog er sich hin bis zum Uralmassiv, anfangs als Laub-, dann als Mischwald, schließlich als fast ununterbrochener Nadelwald, kletterte über die Berge hinweg, und dahinter, in die Freiheit entlassen, breitete er sich über den ganzen unvorstellbar riesigen Raum hin aus bis an die Ufer des Stillen Ozeans, von breiten, dunklen Flüssen wie von Nähten durchzogen, von denen viele wie er keinen Namen besaßen – denn woher sollte man solche Fülle von Namen nehmen, und wer?

In der Sawolshsker Region, an seinem äußersten westlichen Rand, erreichte der Wald noch nicht seine ganze Gewalt, aber sogar in dieser Seichtheit unterschied er sich von seinen europäischen Brüdern wie die Wogen eines Ozeans von den Wellen eines Sees – durch seine Mächtigkeit und seinen behäbigen Atem, und überdies durch die absolute Missachtung menschlicher Gegenwart.

Der Weg erschien nur ganz zu Anfang als ein gehöriger Feldweg, nach kaum zehn Werst jedoch gab er jeglichen Anspruch auf Befahrbarkeit auf und schrumpfte auf die Größe eines gewöhnlichen Pfades zusammen.

Nach ein paar Stunden Geholper durch die von erstem Frühlingsgras überwucherte Radspur, in der das Wasser mattschwarz glänzte, konnten sich die Reisenden kaum mehr vorstellen, dass es auf dieser Erde so etwas wie Städte, Steppen, Wüsten, offenen Himmel und hellen Sonnenschein gab. Dort, auf freiem Feld, war es schon mild und warm, auf den Wiesen blühte gelb der Löwenzahn und summten die ersten schläfrigen Bienen, aber hier lag noch grauer Schnee in den Senken, in den Schluchten gurgelte Schmelzwasser, mit Eisbruch vermischt, standen die Laubbäume trostlos in winterlicher Nacktheit. Und als die Birken und Espen zurückblieben und der Tannenwald begann, da wurde es noch finsterer, noch öder. Die Bäume traten enger zusammen, das Licht schwand, und die Reisenden nahmen jetzt neue Gerüche wahr, die sie schaudern ließen. Es roch nach wilden Tieren und nach einer unbestimmten, klammen, uralten Angst. In der Nacht wurde der beunruhigende Geruch so stark, dass sich die Pferde ans Feuer drängten, furchtsam schnaubten und die Ohren aufstellten.

Pelagia musste wider Willen an die Sawolshsker Sagen von allerlei unheimlichen Waldwesen denken: von dem Bären Babai, der sich die Mädchen aus den Dörfern zur Braut holt, vom Fuchs Lisucha, der, als schöne Jungfrau verkleidet, die jungen Burschen und sogar brave Familienväter von zu Hause fortlockt. Aber am schrecklichsten war der Wolfsmensch Struk mit seinen riesigen glühenden Augen und messerscharfen Zähnen, mit dem man in der Sawolshsker Region die Kinder bange machte, damit sie nicht zu weit in den Wald hineingingen. Aus dem Maule spie er Feuer und Rauch, und er lief nicht auf dem Erdboden, sondern sprang von Wipfel zu Wipfel, wie ein Luchs. Wenn er sich jedoch auf die Erde fallen ließ, verwandelte er sich in einen wackeren jungen Burschen in einem mausgrauen Kaftan. Gebe Gott, betete sie, dass wir keinem solchen Mausemenschen hier im Wald begegnen.

In der Stadt mochten einem all diese alten Sagen und Geschichten wie naive, wenngleich sympathische Schöpfungen der Fantasie des einfachen Volkes Vorkommen, Folklore, wie man ja heutzutage mehr und mehr sagt, aber im Wald, beim Totenruf der Eulen und wenn ganz nahe die Wölfe heulten, dann glaubte man an Babai und Struk.

Und es bestand nicht der geringste Zweifel daran, dass der Wald lebte, dass er dich belauschte, dass er dich ansah, und sein Blick war nicht wohlwollend, sondern feindselig. Pelagia spürte den lauernden Blick des Waldes in ihrem Rücken, manchmal so stark, dass sie sich umwandte und heimlich bekreuzigte. Oh, wie furchtbar wäre es, ganz allein im Wald zu sein.

Aber zum Glück war sie ja nicht allein.

Die von Sergej Sergejewitsch ausgerüstete Expedition setzte sich folgendermaßen zusammen:

Vorneweg, lebhaft mit dem Stabe auf den Boden klopfend, schritt der Führer, der Gemeindeälteste, hinter ihm ritt Dolinin selbst auf einem stämmigen isabellfarbenen Pferd, welches der Kreispolizeivorsteher von Gorodez dem hohen Gast überlassen hatte; dann kam das Fuhrwerk mit der Leiche (sie lag in einer Holzkiste, auf Stroh und Brucheis gebettet); neben dem Fuhrwerk gingen zwei einfache Polizisten, und den Abschluss der kleinen Karawane bildete ein Planwagen mit dem Proviant und dem Gepäck. Pelagia saß oben auf dem Bock neben dem Kutscher und ertrug standhaft das Rütteln und Schütteln des Wagens in den zahllosen Schlaglöchern, den monotonen Singsang ihres derbknochigen Nachbarn und den beißenden Rauch seiner Birkenrindenpfeife.

Die Schwester schaute ängstlich nach allen Seiten und wunderte sich immer wieder über sich selbst. Wie hatte es bloß so weit kommen können, dass sie, eine stille Ordensschwester und Leiterin einer Klosterschule, sich irgendwo am Ende der Welt unter lauter fremden Menschen wiederfand, um die sterblichen Überreste eines falschen Skandalpropheten in die Heimat zu geleiten? O Herr unser Gott, rätselhaft sind Deine Wege. Man konnte es auch anders ausdrücken: Sie hatte ihre fünf Sinne nicht beieinander gehabt. Dieser energische Petersburger Untersuchungsführer hatte sie ganz durcheinander gebracht, geradezu verhext.

In Sawolshsk hatten sie die »Stör« verlassen.