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Sergej Sergejewitsch ließ sämtliche Passagiere einschließlich der »Findelkinder« gehen, da man ja einen konkreten Verdächtigen ausgemacht hatte – den Passagier aus der Kabine Nummer dreizehn.

Pelagia war sehr verwundert darüber, dass keiner der Anhänger Manuilas den Wunsch äußerte, die sterbliche Hülle ihres Idols auf seinem letzten Weg zu begleiten, sondern alle die Reise ins Heilige Land ohne Unterbrechung fortsetzen wollten. Dolinins Kommentar diesbezüglich lautete:

»Prophet sein ist eine undankbare Tätigkeit. Da hauchst du deine Seele aus, und die Leute kümmert das keinen Deut.«

»Mir kommt es dagegen so vor, als habe dieser Mensch, wer immer er auch war, sein Werk vollendet«, versuchte die Schwester, Manuila und seine armselige Herde in Schutz zu nehmen. »Das Wort hat den Propheten überlebt, so wie es sich gehört. Manuila ist nicht mehr, doch die ›Findelkinder‹ kommen nicht von ihrem Wege ab. Woher haben sie eigentlich diesen seltsamen Namen?«

»Sie sagen, Manuila habe sie unter den Menschen ›gefunden‹«, erklärte Dolinin. »Er habe sie aus dem Schmutz und der Gosse aufgelesen, in weißes Leinen gehüllt und ihnen ein blaues Band geschenkt, als Zeichen für das kommende Himmelsreich. Sie haben da eine ganze, allerdings reichlich primitiv konstruierte Philosophie, irgendwelche zusammengestückelten Teile aus dem Alten Testament, zudem abstrus interpretiert. Christus und das Neue Testament lehnen sie ab, weil sie Juden sein wollen. Wie gesagt, das alles ist höchst nebulös und verworren. Soweit ich weiß, hat sich Manuila nicht allzu sehr um seine frisch gebackenen ›Juden‹ gekümmert. Er verdreht irgendeiner schlichten Seele den Kopf und geht seiner Wege, und diese armen Schlucker zermartern sich ihr kümmerliches Hirn, was sie jetzt mit ihrem Leben anfangen sollen. Insofern haben Sie wohl Recht, Manuilas Tod ändert für sie wenig . . .« Das Gesicht des Untersuchungsführers verdüsterte sich. »Tja, Schwester, so ist das heutzutage, die Seelenfänger haben Saison, ihre Zahl wird immer größer und größer und ihre Ernte immer reicher. Erinnern Sie sich, wie es bei Matthäus heißt? ›Viele falsche Propheten werden auf stehen und werden viele verführen.‹«

»›Und weil die Gesetzlosigkeit überhand nimmt, wird die Liebe der vielen erkalten‹«, führte Pelagia die Worte des Apostels fort.

Dolinin erschauderte und sah die Nonne ganz sonderbar an, so als hörte er diese Worte zum ersten Male oder als hätte er noch nie über sie nachgedacht.

»Lassen wir die Liebe dem Herrgott«, sagte er mürrisch. »Retten wir lieber die armen Seelen vor den Häschern.«

»Ohne Liebe?«, wollte Pelagia fragen, aber sie schwieg, es schien ihr nicht der rechte Zeitpunkt für abstrakte Diskussionen. Doch sie dachte bei sich, dass es mit der Liebe im Leben des Reformators der polizeilichen Ermittlungsarbeit offenbar nicht zum Besten stand. Ob er wohl verheiratet war?

Laut sprach sie jedoch von etwas anderem.

»War es nicht leichtsinnig, alle gehen zu lassen?«

»Ach, die sollen ruhig weiterschippern. An der nächsten Anlegestelle gehen mehrere Agenten der Kriminalpolizei an Bord der ›Stör‹. Ich habe das telegrafisch veranlasst. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Ostrolyshenski doch noch aus irgendeiner Ritze hervorgekrochen kommt. Ein Dampfer ist schließlich keine Abstellkammer, irgendein Winkel entgeht einem immer. Und falls sich unsere Theorie als Irrtum herausstellt, und Herr Glasauge hat mit der Sache überhaupt nichts zu tun . . .«

»Was soll das heißen – ›nichts damit zu tun‹«, fuhr Pelagia entrüstet auf. »Und warum ist er dann verschwunden?«

»Nun, es wäre durchaus denkbar, dass er ebenfalls ermordet und dann über Bord geworfen wurde. Möglicherweise hat er etwas gesehen, was er nicht sehen sollte. So was kommt ziemlich häufig vor . . . Also, wenn nicht Ostrolyshenski der Mörder ist, sondern jemand anders, dann wird dieses Subjekt sich in Sicherheit wiegen, nachdem ich den Dampfer verlassen habe, und seine Wachsamkeit wird nachlassen. Die Agenten sind instruiert, vor allem solche Passagiere im Auge zu behalten, die vor ihrem gebuchten Reiseziel von Bord gehen. Darüber hinaus natürlich überhaupt alles, was irgendwie verdächtig ist. Bis Zarizyn ist es noch eine weite Strecke; wenn der Mörder auf dem Dampfer ist, haben wir genug Zeit, ihn zu verhaften.«

Pelagia, von dem Weitblick des Untersuchungsführers beeindruckt, verstummte.

»Und inzwischen unternehme ich eine kleine Spazierfahrt nach Stroganowka und wieder zurück«, fuhr Sergej Sergejewitsch fort. »Ich werde überprüfen, wer dieser Scheluchin tatsächlich ist, und ganz nebenbei lässt sich vielleicht irgendwo das Ende des Fadens finden.«

Und plötzlich, vollkommen übergangslos und ohne auch nur eine Sekunde zu stocken, sagte er in genau demselben, sachlichen Ton:

»Ich habe eine Bitte an Sie, liebe Schwester. Es wird Ihnen vielleicht etwas seltsam Vorkommen, vielleicht sogar befremdlich, aber aus irgendeinem Grund glaube ich doch, dass Sie mir die Kühnheit verzeihen werden, und wenn mir das Glück hold ist, stimmen Sie sogar zu . . .« Er räusperte sich und sprudelte dann in einem Atemzug hervor: »Wären Sie nicht vielleicht bereit, mir Gesellschaft zu leisten?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte die Nonne verständnislos.

»Ich meine: auf der Fahrt nach Stroganowka.« Und hastig, ehe sie »Nein« sagen konnte, redete Dolinin weiter: »Schließlich ist dieser Manuila doch eine getaufte Seele, auch wenn er den Glauben seiner Väter abgelegt hat. Es ist irgendwie unschicklich, seine sterbliche Hülle ohne jeden geistlichen Beistand zu transportieren. Man wird mir vielleicht irgendeinen grämlichen Klosterbruder mitgeben. Mit Ihnen wäre es unvergleichlich angenehmer.« Hier fiel Sergej Sergejewitsch plötzlich ein, dass seine letzte Bemerkung vielleicht zu verwegen geklungen haben könnte, und er korrigierte sich eilig. »Vor allem natürlich viel sinnvoller. Sie haben doch selber gesagt, dass Sie schon mal in diesem Nest gewesen sind. Sie könnten uns beim Umgang mit den Leuten dort eine wertvolle Hilfe sein . . .«

»In Stroganowka war ich nicht, nur in Stariza, und das ist etliche Werst entfernt.«

»Das spielt keine Rolle, jedenfalls sind Ihnen die dortigen Sitten einigermaßen vertraut. Außerdem wird eine Nonne den Leuten weniger Angst einflößen als ein ihnen vollkommen unbekannter Vertreter der Obrigkeit . . . Und dann kam es mir auch so vor, als sei Ihnen das Schicksal dieses Möchtegern-Propheten nicht ganz gleichgültig. Wenigstens können Sie unterwegs für seine verirrte Seele beten . . . Nun, was sagen Sie?«

Und dabei sah er ihr so traulich in die Augen, dass Pelagia, die schon eine höfliche Absage auf der Zunge hatte, ins Wanken kam.

Sie spürte ganz deutlich, wie der Teufel der Eitelkeit sie in Versuchung führte, begriff sie doch nur allzu gut, worin der wahre Grund der »befremdlichen Bitte« Sergej Sergejewitschs bestand. Der Meister der Kriminalistik zollte ihrer Intelligenz und ihrem scharfen Auge Anerkennung und hoffte auf ihre Mithilfe bei der Ermittlung.

Andere Beweggründe zu argwöhnen, etwa weltlicher, sündiger Natur, gestattete Pelagia sich nicht, schließlich war sie eine Person des geistlichen Standes. Aber dieses Eitelkeitsteufelchen war schon schlimm genug.

Und ihre schwache Seele konnte der Versuchung nicht widerstehen.

Ich bin selber schuld, sagte sie sich, während ihre Wangen sich vor Vergnügen rosig färbten. Ich hätte den Mund halten sollen. Aber ich musste ja mit meinen vorwitzigen Schlussfolgerungen herausplatzen. Jetzt wäre es eigentlich sogar ungehörig, Sergej Sergejewitsch mitten in der Untersuchung allein zu lassen.

»Sagen Sie einfach Ja«, bat Dolinin leise, als er ihr Zögern bemerkte. »Ich werde selbst mit Seiner Eminenz sprechen.«

»Nein«, seufzte Pelagia. »Es ist wohl besser, wenn ich das übernehme.«

Der Himmlische Bräutigam

Pelagia bereitete sich sehr gründlich auf dieses heikle Gespräch vor und versuchte, ihre Ansprache ganz nach männlicher Manier aufzubauen, das heißt rein logisch, ohne jede Emotionalität, wie es Mitrofani so sehr schätzte.