Bei der mittäglichen Rast trat Pelagia zu der grob gezimmerten Kiste, in der der Ermordete ruhte, und begann flüsternd ein Gebet zu sprechen. Worin liegt der Sinn dieses tragischen Ereignisses, das man »jähen Tod« nennt, dachte sie – wenn ein Mensch in der Blüte seiner Jahre dahingerafft wird, ohne jede Warnung, ohne Vorbereitung? Was hat der Herrgott davon? Dient es einfach nur als Beispiel und Belehrung für die Zurückgebliebenen? Aber was ist dann mit dem Verstorbenen? Verdient es denn ein Mensch, nur ein belehrendes Beispiel für andere zu sein? Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie die Schritte nicht gehört hatte, und als ganz nahe an ihrem Ohr Dolinins Stimme erklang, fuhr sie erschrocken zusammen.
Als wäre nichts gewesen, als hätte es diese zweieinhalb Tage ununterbrochenen Schweigens nicht gegeben, fragte der Untersuchungsführer:
»Und, was halten Sie nun von der ganzen Sache, Schwester?«
»Von welcher Sache?«
»Sie wissen genau, was ich meine.« Sergej Sergejewitschs Gesicht zuckte nervös. »Ich bin sicher, Sie haben schon längst eine klare Vorstellung vom Hergang des Verbrechens in Ihrem Kopf. Wer, wie und warum. Sie sind eine außerordentlich kluge Frau, Sie besitzen einen scharfen Verstand und einen ausgezeichneten Spürsinn. Während der ersten Etappe der Ermittlung waren Sie mir eine unschätzbare Hilfe, also bleiben Sie jetzt nicht auf halbem Wege stehen, reden Sie: Hypothesen, Vermutungen, die fantastischsten Einfälle – ich bin für alles dankbar.«
Hätte er diese Frage nicht erst jetzt, sondern vor der tränenreichen Aussprache mit Mitrofani gestellt, Pelagia hätte ganz gewiss nicht gezögert, ihm ohne Umschweife alle ihre Gedanken und Erwägungen mitzuteilen. Jene Unterredung mit dem Bischof aber und ihr neuerliches Versprechen hatten in der Nonne eine entscheidende Wendung ausgelöst. Nachdem sie sich freimütig eingestanden hatte, vor allem aus eitler Abenteuerlust und sündiger Neugier in diese Reise nach Stroganowka eingewilligt zu haben, verbot sie sich jetzt aufs Allerstrikteste, darüber nachzudenken, wo jener Herr Glasauge wohl stecken mochte, ob er nun den Propheten ermordet hatte oder nicht, und wenn ja, warum – ob aus Hass oder Gewinnsucht oder aus sonst irgendwelchen Motiven. Deshalb senkte sie nur demütig die Augen und entgegnete dem Untersuchungsführer:
»Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht; weil es mir nicht zusteht, darüber nachzudenken. Sie mögen vielleicht den falschen Eindruck von mir bekommen haben, ich hielte mich für eine Detektivin im Nonnenhabit. Ich kann Ihnen jedoch versichern, mein Herr, es ist nicht so. Darf eine Nonne sich etwa in weltliche Angelegenheiten einmischen, noch dazu in solch sündige? Wenn ich damals etwas gesagt habe, was ich nicht hätte sagen sollen, so ist das nur der momentanen Erschütterung zuzuschreiben, die der Anblick des geschändeten Körpers bei mir ausgelöst hat. Sie, mein Herr, müssen Ihre Pflicht tun, und ich die meine. Gott möge Ihnen helfen! Ich werde für den Erfolg Ihrer Bemühungen beten.«
Er sah sie mit unbeweglichem, prüfendem Blick an.
Dann legte sich sein Gesicht plötzlich in ein strahlendes, freundschaftliches Lächeln:
»Schade, wir hätten wunderbar zusammen Schlüsse ziehen können. Aber noch bedauerlicher ist es, Schwester, dass Sie nicht im Polizeidienst stehen. Wir haben nur sehr wenige weibliche Agenten, aber jede von ihnen ist so viel wert wie zehn Männer. Und Sie mit Ihren Fähigkeiten, Sie wären so viel wert wie hundert. Na gut, ich will Sie nicht weiter stören. Ich glaube, Sie haben gerade gebetet?«
Er entfernte sich in Richtung Lagerfeuer. Von jenem Augenblick an aber war sein Verhalten vollkommen verändert, er war wieder der alte Sergej Sergejewitsch, wie sie ihn kennen gelernt hatte, der scharfsinnige und immer ein wenig spöttische Gesprächspartner, in dessen Gegenwart die Zeit schneller verging und intensiver erschien.
Von nun an hielt sich Dolinin nicht mehr an der Spitze der Reisegesellschaft, sondern zog es vor, neben dem Fuhrwerk herzureiten. Manchmal scheuchte er gar den Kutscher vom Bock herunter und nahm selbst die Zügel in die Hand, oder er saß ab und führte sein Pferd am Zaumzeug hinter sich her. Einmal bot er Pelagia an, sie solle doch ein Stück reiten, was sie jedoch mit Hinweis auf ihren Nonnenstand ablehnte. Dabei verspürte sie große Lust, sich wie in früheren Zeiten nach Männerart in den Sattel zu schwingen, die Knie an die runden, heißen Flanken des Pferdes zu pressen, sich in den Steigbügeln aufzurichten und über die weiche, feuchte Erde dahinzupreschen, dass schwere Brocken mit sattem Schmatzen hinter ihr in die Höhe wirbelten . . .
Sie empfand den spöttischen Ton Sergej Sergejewitschs keineswegs als kränkend, ja er imponierte ihr sogar, vielleicht deshalb, weil darin nicht die geringste Spur von jenem Zynismus zu finden war, der bei dem gebildeten Teil der modernen Gesellschaft so weit verbreitet ist. Man spürte, dass er ein Mann mit Prinzipien und Idealen war und – was ja heutzutage schon geradezu erstaunlich ist – einen tiefen, unverfälschten Glauben besaß.
Die traurige Last, mit der sie reisten, brachte anfangs das Gespräch immer wieder auf das Opfer.
Dolinin erzählte ihr einige aufschlussreiche Details aus dem sündigen Leben des »Seelenfängers«.
Offenbar hatte der wieder erschienene Messias erst vor relativ kurzer Frist, nämlich erst vor etwa zwei Jahren, seine Predigertätigkeit aufgenommen, hatte jedoch inzwischen das halbe Gouvernement durchwandert und eine beachtliche Zahl von Anhängern um sich geschart, vorwiegend ganz einfache Leute. Die »Findelkinder« hielten weder Massenversammlungen noch Prozessionen ab, zogen aber dennoch sehr viel Aufmerksamkeit auf sich – sei es durch ihre merkwürdige weißblaue Tracht, sei es durch ihre demonstrative Ablehnung des Christentums einschließlich der ganzen orthodoxen Kirche. Dabei war der Sinn von Manuilas Predigten, wie meistens bei solcherart Seelenverwirrern, die aus dem trüben Bodensatz des Volkes emporsteigen, gänzlich undurchsichtig und blieb jeder logischen Herangehensweise verschlossen. Im Wesentlichen handelte es sich um ein Sammelsurium aus allerlei wirren Pamphleten: gegen den Auferstehungstag, gegen die Priester, die Ikonen, das Glockenläuten, den Militärdienst und den Verzehr von Schweinefleisch – ergänzt durch eine ziemlich vage Verherrlichung des Judentums (obwohl Manuila, vorausgesetzt, er stammte wirklich aus diesem verschlafenen Winkel des Gouvernements, in seinem Leben nie einen echten Juden zu Gesicht bekommen haben konnte) und allen möglichen anderen Unfug.
Jedenfalls, berichtete Dolinin weiter, hatte sich irgendwann der Oberprokuror, der ja von Amts wegen ein wachsames Auge auf jede Art von Ketzerei haben muss, persönlich für den Wanderprediger zu interessieren begonnen. Er ließ den armen Burschen aus seinem Posemuckel zu sich kommen und hielt mit ihm einen geistlichen Disput ab. (»Konstantin Petrowitsch liebt diesen Zweikampf mit Ketzern, vorausgesetzt, er bleibt dabei Sieger, so wie es seinem Namen entspricht – schließlich kommt Pobedin von ›Pobeda‹, und das bedeutet ›Sieg‹«, grinste Sergej Sergejewitsch, der von dieser Begegnung sehr ulkig, doch ohne jede Anzüglichkeit erzählte.) Und Manuila, nicht auf den Kopf gefallen, passte den Moment ab, da der schöngeistige Oberprokuror sich zum Bild des Erlösers umwandte, um sich zu bekreuzigen, und ließ eine goldene, diamantenbesetzte Uhr – ein persönliches Geschenk von Seiner Majestät dem Zaren – von Pobedins Schreibtisch verschwinden. Der Diebstahl wurde bemerkt, man brachte den Propheten aufs Revier. Konstantin Petrowitsch ließ jedoch Gnade walten, und der Vagabund durfte gehen, wohin der Wind ihn wehte, ohne dass man ihn bestrafte. »Es wurden nicht einmal Fotografien angefertigt, geschweige denn eine Bertillonage! Wie sehr hätte das jetzt meine Arbeit erleichtert!«, seufzte der Erzähler bedauernd und schloss mit den Worten:
»Es wäre wirklich besser gewesen, er hätte ihn eingelocht, dieser unglückselige Allesverzeiher. Manuila säße jetzt zwar im Kittchen, aber er wäre am Leben.«