»Eine traurige Geschichte«, sagte Pelagia, als er geendet hatte. »Aber am traurigsten finde ich dabei, dass der orthodoxe Glaube, der doch eigentlich unsere natürliche Religion ist, offenbar so vielen russischen Menschen keinen seelischen Trost mehr spendet. Es scheint etwas darin zu fehlen, was ein einfaches Gemüt doch braucht. Oder aber es ist im Gegenteil etwas darin, was nicht hineingehört, etwas Unwahrhaftes – sonst würden die Menschen sich doch nicht von unserer Kirche abwenden und sich all diesen abstrusen Ketzereien hingeben.«
»Nein, unserem Glauben mangelt es an nichts«, fuhr ihr Dolinin mit solch unbeirrbarer Sicherheit ins Wort, wie sie Pelagia von diesem Skeptiker eigentlich nicht erwartet hätte.
Aus irgendeinem Grunde hatte die Bemerkung der Nonne den Untersuchungsführer in Erregung versetzt. Eine Weile schien er unschlüssig, dann sprach er weiter:
»Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen . . . über einen Bekannten von mir . . .« Er wurde rot, riss sich den Kneifer von der Nase und rieb sich nervös die Nasenwurzel. »Ach, wozu um den heißen Brei herumreden, Sie mit Ihrem Verstand kämen ja sowieso darauf: Natürlich bin ich selbst gemeint. Sie sind der zweite Mensch auf der Welt, Schwester, dem ich diese Geschichte erzählen möchte . . . Ich weiß selbst nicht, warum . . . Nein, das stimmt nicht, ich weiß warum. Aber ich werde es Ihnen nicht sagen, es spielt hierbei keine Rolle. Ich möchte es, und das muss reichen.«
In Sergej Sergejewitsch schien ein heftiger innerer Kampf zu toben, seine Erregung wuchs mit jedem Moment. Pelagia hatte dieses Phänomen schon des Öfteren beobachtet: Ein Mensch trägt lange, lange Zeit, manchmal über Jahre hinweg, eine schwere seelische Bürde mit sich herum, und auf einmal, wie aus heiterem Himmel, schüttet er dem erstbesten Menschen, der ihm begegnet, mit einem Schlag sein Herz aus. Aber es muss auf jeden Fall ein Fremder sein, der ihm ganz zufällig über den Weg läuft, das ist die Voraussetzung.
»Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte«, begann Dolinin und lächelte ein wenig gezwungen, »sie ist eigentlich sogar ziemlich banal. Solche Geschichten passieren jeden Tag. Es ist wahrlich kein Stoff für eine echte Tragödie, allenfalls für einen anzüglichen Witz über einen Hahnrei und eine Frau, die ihm untreu wird . . . Ein Mann (welcher vor Ihnen steht, aber ich erzähle es lieber in der dritten Person, das ist weniger peinlich) heiratete einmal eine wunderschöne junge Frau. Selbstverständlich vergötterte er sie! Er war glücklich, wie man nur glücklich sein kann, und er lebte in dem Glauben, sie sei genauso glücklich wie er, und sie würden zusammenbleiben, bis dass der Tod sie schiede, wie man so schön sagt. Aber wir wollen die Geschichte nicht unnötig in die Länge ziehen, man weiß ja, was kommen muss . . . Und es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eines Tages suchte er etwas in ihrem Ridikül, irgendeine unbedeutende Kleinigkeit . . . Nein, ich muss präzisieren, damit die Abgeschmacktheit und groteske Lächerlichkeit dieses Vorgangs deutlicher wird . . . Stellen Sie sich vor, dieser Dummkopf brauchte tatsächlich eine Puderdose! Er wollte einen Pickel in seinem Gesicht abdecken, weil er einen wichtigen Auftritt vor Gericht hatte! Einen kleinen, harmlosen Pickel, der mitten auf seiner Nase saß! Verstehen Sie, wie peinlich! Ja, damals war so ein Auftritt vor Gericht eine außerordentlich bedeutsame Angelegenheit für mich.« Jetzt war Sergej Sergejewitsch doch zur ersten Person übergegangen. »Bis zu dieser Minute, als ich in ihrem Ridikül ein Briefchen fand, und zwar eines von der pikantesten Art.«
Pelagia stieß einen kleinen erschrockenen Laut aus.
»Ich sage ja, eine ziemlich abgeschmackte Geschichte«, sagte Dolinin und lächelte unbeholfen.
»Aber nein, das ist überhaupt nicht abgeschmackt!«, rief die Nonne. »Das ist ein furchtbares Unglück! Nur weil es so oft geschieht, muss es noch lange nicht abgeschmackt sein! Wenn der Mensch, der für uns der wichtigste auf der Welt ist, uns verrät, dann ist das noch schlimmer, als wenn er gestorben wäre . . . Aber nein, so etwas soll man nicht sagen, das ist eine Sünde, natürlich ist es nicht schlimmer, auf keinen Fall ist es schlimmer.«
Pelagia wurde blass und schüttelte zweimal heftig den Kopf, als wollte sie eine böse Erinnerung oder Vision verscheuchen. Aber Sergej Sergejewitsch sah sie überhaupt nicht an, er schien ihren Einwurf gar nicht gehört zu haben.
Er setzte die unterbrochene Erzählung fort:
»Ich ging unverzüglich zu ihr und verlangte eine Erklärung. Aber anstatt um Verzeihung zu bitten oder mich wenigstens anzulügen, sagte sie: ›Ich liebe ihn schon lange, ich liebe ihn mehr als mein Leben. Ich habe es nicht über mich gebracht, es dir zu sagen, weil ich dich achte und weil du mir Leid tust, aber wenn es jetzt schon einmal so gekommen ist . . .‹ Er war ein langjähriger Bekannter von uns, ein Freund der Familie und häufiger Gast . . . Reich, von ansehnlicher Statur und eine ›Erlaucht‹ obendrein. Bald darauf zog sie zu ihm. Ich verlor vollkommen den Kopf, ich war außer mir. Die Welt war zusammengestürzt und lag in Trümmern, was galt mir jetzt noch das Amt, was galten mir meine wichtigen Prozesse . . . Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal so vor jemandem auf den Knien liegen könnte, heulend und flehend und alles, was dazugehört. O ja, ich konnte, und sogar ganz vortrefflich! Aber es war alles vergebens. Meine Frau ist ein herzensguter Mensch und eine mitfühlende Seele, sie weinte bittere Tränen mit mir. Kaum fiel ich auf die Knie – bums, lag sie neben mir. Ich heulte, sie heulte, und so krochen wir nebeneinander auf dem Fußboden herum und baten uns gegenseitig um Verzeihung. Aber bei allem Mitgefühl ist sie auch eine sehr willensstarke Person, und wenn sie einmal von etwas überzeugt ist und einen Entschluss gefasst hat, bringt nichts und niemand sie davon ab. So kannte und respektierte ich sie. Natürlich wich sie auch jetzt keinen Millimeter von ihrer Haltung ab, ich quälte sie und mich ganz umsonst. Und eines Tages machte sie sich meine Schwäche zunutze« – an dieser Stelle trat zum ersten Mal offene Bitterkeit in seine Stimme – »und bat mich, ihr unseren Sohn zu überlassen. Ich willigte ein – in der Hoffnung, sie durch meinen Edelmut und meine Opferbereitschaft zu beeindrucken. Und ich war auch erfolgreich – sie war tief berührt. Aber sie kam trotzdem nicht zu mir zurück . . .
Jedenfalls, das Projekt, von dem ich sprach, jenen Reformentwurf, verfasste ich während dieser Zeit. Ich hatte ein heimliches, ein schier wahnsinniges Ziel. Ich verstieß gegen jede Subordination, ich war geradezu dreist und unverschämt. Ich dachte: Wenn man mich aus dem Dienst entlässt – meinetwegen, es ist sowieso schon alles egal, soll es kommen, wie es kommen muss. Aber vielleicht falle ich ja auch die Treppe hinauf und mache plötzlich Karriere? Schließlich waren meine Ideen nicht ganz dumm, ich hatte mich lange genug damit gequält, sie mochten unserem Staatswesen sehr wohl zu Nutz und Frommen gereichen . . . Zunächst wurde ich tatsächlich vom Dienst suspendiert, aber das warf mich nicht aus der Bahn – im Gegenteil, es verschaffte mir sogar Genugtuung. Wenn es denn so sein soll, dachte ich – mir ist es recht. Denn zu diesem Zeitpunkt, müssen Sie wissen, war bereits ein Plan in mir herangereift.«
»Was für ein Plan?«, fragte Pelagia, die an seinem Ton schon erriet, dass es sich um einen höchst unseligen Plan handeln musste.
»Ein großartiger Plan«, grinste Dolinin. »Ein in seiner Art sogar unvergleichlicher Plan. Die Sache war nämlich die, dass die glücklich Liebenden beabsichtigten, in den Stand der Ehe zu treten. Natürlich nicht einer vollwertigen Ehe, denn eine kirchliche Trauung war ja nicht mehr möglich, aber es sollte doch so eine Art Hochzeitsfeier stattfinden. In der Hauptstadt herrschen andere Sitten als in der Provinz, dort sind solche Eheschließungen mit den Gattinnen anderer Männer ja heutzutage keine Seltenheit mehr. ›Zivilehe‹ nennt sich das. Das Fest wurde in ganz großem Stil vorbereitet, alles sehr modern, ohne falsche Scham. Es sollte ein großes Fest geben für alles, was Rang und Namen hat, nach dem Motto: Echte Liebe steht eben höher als bürokratische Gesetze und übler Klatsch.