Ich tat so, als hätte ich mich in das Unvermeidliche gefügt. So mancher mir Wohlgesonnene hatte mir ja schon seit längerem geraten, ›die Dinge doch mit einem gewissen Abstand zu betrachten‹. Also gut, betrachtete ich die Sache eben mit Abstand.« Sergej Sergejewitsch ließ ein freudloses Lachen hören, das in ein Husten überging. Dann räusperte er sich und fuhr fort: »Nach außen hin gab ich mich als der reinste Engel, geradezu als Tolstoianer, und so kam es – Sie werden es nicht glauben –, dass ich mit einer Einladung zu diesem Fest der Liebe beehrt wurde. Das war der Moment, wo mir die Idee zu jenem Plan kam . . . Zuerst wollte ich mir, etwa so, wie es im Lande der aufgehenden Sonne Sitte ist, vor aller Augen mit einem scharfen Dolch den Bauch aufschlitzen und meine Eingeweide direkt auf die Festtafel ausleeren – bitte sehr, meine Herrschaften, greifen Sie zu. Aber dann fiel mir etwas Besseres ein.«
Pelagia sperrte die Augen auf und hielt sich mit der Hand den Mund zu.
Dolinin setzte seine quälende Erzählung unerbittlich fort:
»Ich hatte mir überlegt, dass ich zu dem Fest einen Blumenstrauß und eine Flasche von ihrem Lieblingswein mitnehmen würde, den wir früher nur zweimal im Jahr zu kaufen pflegten, nämlich an ihrem Namenstag und an unserem Hochzeitstag. Und dann, wenn das Fest in vollem Gange ist, bitte ich um das Wort – meine verehrten Damen und Herren, ich möchte einen Toast ausbringen. Natürlich werden sich sofort alle Blicke auf mich richten, und ich kann mir der vorzüglichsten Aufmerksamkeit gewiss sein. Die Situation ist ja einigermaßen pikant: Der verlassene Ehemann gratuliert den frisch Vermählten. Die einen packt die Rührung, die anderen feixen innerlich. Und ich werde eine Rede halten, eine sehr, sehr kurze Rede. ›Die Liebe ist eine alles zerstörende Kraft‹, werde ich sagen. ›Möge sie euch auf ewig lächeln, so wie ich euch jetzt zulächeln werde.‹ Ich öffne die Flasche und fülle mein Glas bis zum Rand, dann hebe ich es hoch und lasse es einen Augenblick über den Köpfen der Anwesenden schweben. Das mache ich extra für meinen Sohn, der bei dem Fest natürlich auch zugegen ist. Er soll alles ganz genau im Gedächtnis behalten. Und dann lasse ich den Inhalt meines Glases ganz langsam über meine Stirn fließen.« Dolinin ließ die Hand über sein Gesicht gleiten. »Nur wird kein Wein in der Flasche sein, sondern Schwefelsäure.«
Pelagia schrie auf, aber Sergej Sergejewitsch hatte es wohl wieder nicht gehört.
»Ich hatte kurze Zeit zuvor in einem ähnlichen Falle ermittelt – ein Verbrechen aus Leidenschaft. Dort hatte eine Frau, genauer gesagt, ein Straßenmädchen, ihrem Zuhälter und Geliebten aus Eifersucht Säure ins Gesicht gegossen. Ich habe seine Leiche im Leichenschauhaus gesehen: Die Haut hatte sich vom Fleisch gelöst, die Lippen waren vollkommen zerfressen, und die bloßen Zähne grinsten mich an. Das brachte mich auf die Idee, den Jungvermählten solch ein ›Lächeln der alles zerstörenden Liebe‹ zu schenken. Den Schmerz fürchtete ich nicht, ja, ich dürstete geradezu danach, wie nach einem labenden Balsam. Er schien mir das Einzige, was diesem Feuer vergleichbar war, das mich all die Monate über innerlich verzehrt hatte . . . Natürlich wäre ich auf der Stelle tot gewesen, bei einer Verbrennung solchen Grades würde das Herz den Schock nicht verkraften. Und dann sollten die beiden meinetwegen in Frieden miteinander leben und ihr Glück genießen. Sie hätten bestimmt süße Träume gehabt . . . Und mein Sohn sollte sein Leben lang daran denken . . . So ungefähr also sah mein Plan aus.«
»Und was hat Sie daran gehindert, ihn auszuführen?«, fragte die Nonne flüsternd.
Diesmal hatte Dolinin zugehört, er nickte.
»Am Vorabend des glorreichen Tages wurde ich plötzlich in die höchsten Sphären der Macht bestellt. Es war ein Wunder geschehen, es gab dort oben tatsächlich Menschen, die an das Wohl des Staates dachten, und ich hatte ihre Gunst gefunden, sie hoben mich zu sich empor und gaben meinem Leben einen neuen Sinn. Ich nahm es als ein Zeichen des Himmels. Das ist meine Chance, dachte ich, jetzt kann ich meiner Frau beweisen, dass ich ein großer Mann bin, wichtiger und bedeutender als ihr kleines Gräflein. Ich werde eine gesellschaftliche Stellung besitzen, Reichtum und Macht, ich werde ihn in jeder Hinsicht übertreffen, und dann wird es ihr Leid tun, sie wird bereuen, was sie getan hat. – Was natürlich Unsinn war, denn sie ist kein Mensch, der seine Entscheidungen bereut! Aber wie ich schon sagte, ich war außer mir.«
Sergej Sergejewitsch schwieg einen Augenblick und beendete dann seine Erzählung in einem ganz anderen Ton, ohne jede Bitterkeit oder Selbstmitleid:
»Aber in Wirklichkeit bestand der Sinn jenes Zeichens in etwas ganz anderem. Ein guter Freund hat mich später darauf gebracht – sein Name spielt keine Rolle, Sie kennen ihn nicht. Er sagte zu mir: ›Gott hat sich lhrer erbarmt, er hat Ihre Seele gerettet.‹ So einfach ist es, Gott hat sich meiner erbarmt. Und als ich das begriffen hatte, fand ich zum Glauben. Ich glaubte – ohne Deutelei, ohne Wenn und Aber. Von diesem Augenblick an begann mein wirkliches Leben.«
»Fürwahr, so ist es!«, rief Pelagia aus, und einem instinktiven Impuls folgend, sprudelte sie hervor: »Wissen Sie, ich möchte Ihnen auch gern etwas über mich erzählen . . .«
Aber in diesem Moment zog der Untersuchungsführer die Zügel an und brachte sein isabellfarbenes Pferd zum Stehen, während das Fuhrwerk mit Pelagia weiterrollte.
Die Nonne sprang vom Kutschbock herunter und lief das Stück Weg zurück zu Dolinin – nicht, weil sie ihm ihre Geschichte erzählen wollte (sie hatte verstanden, dass er für Herzensergüsse jetzt nicht empfänglich war), sondern weil sie ihm etwas Wichtiges sagen wollte.
»Gott hat Ihr Leben und Ihre Seele gerettet. Und Er wird es bei dieser Gnade nicht bewenden lassen. Die Zeit vergeht, und die Wunde wird verheilen. Eines Tages wird Ihr Groll verflogen sein, und Sie werden verstehen, dass es nicht die Schuld Ihrer Frau war. Sie ist einfach nicht die, die Ihnen von Gott bestimmt ist. Und wer weiß, vielleicht werden Sie Ihre wahre Gefährtin noch finden.«
Dolinin lächelte spöttisch, doch ohne Sarkasmus.
»Nein, danke, ich bin kuriert. Vielleicht, wenn mir so eine wie Sie begegnet. Aber ich habe den Verdacht, eine wie Sie gibt es nicht noch einmal auf der Welt. Außerdem ist es ja bedauerlicherweise nicht möglich, eine Nonne zu heiraten.«
Damit gab er seinem Pferd die Sporen und preschte an die Spitze des Zuges. Pelagia blieb vollkommen verwirrt zurück.
Die Schrecken des Waldes
Lange danach noch saß die Schwester auf dem Kutschbock und sagte kein Wort. Gott allein weiß, in welchen Sphären ihre Gedanken schwebten, auf ihrem Gesicht jedenfalls lag ein sonderbarer Ausdruck – es wirkte traurig und entrückt zugleich. Manchmal lächelte sie, dann wieder liefen ihr Tränen über die Wangen, und sie wischte sie mit dem Handrücken fort, ohne sie überhaupt zu bemerken.
Und auf einmal war diese Laune verflogen, ihre Gedanken verwirrten sich. Irgendetwas irritierte sie, lenkte sie ab, aber sie verstand nicht sofort, was es war.
Plötzlich begriff sie: Da war es wieder. Sie spürte ganz deutlich einen Blick in ihrem Nacken, einen starren, unverwandten Blick.
Das geschah nicht zum ersten Mal. Vorhin, während der mittäglichen Rast, war es genauso gewesen. Pelagia hatte sich brüsk umgedreht und gerade noch gesehen, wie sich ganz hinten am Rande der Lichtung ein Zweig im Unterholz bewegte.
Und jetzt empfand die Nonne ganz genau dieselbe Unruhe. Sie drehte sich um – und griff sich vor Schreck ans Herz: Ein riesiger grauer Vogel saß auf einer Tanne und starrte sie aus großen runden Augen an.
Pelagia kicherte leise. Herrgott, ein Uhu! Nur ein Uhu . . .