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Aber am Abend, als das Lager für die Nacht aufgeschlagen wurde, ereignete sich ein Vorfall, bei dem ihr das Lachen verging. Während die Männer Unterstände aus Laub bauten und Reisig für das Feuer sammelten, ging Pelagia, dem Ruf der menschlichen Natur Folge leistend, ein Stück in den Wald. Weil sie sich vor den Männern genierte, stieg sie ziemlich tief in das dichte Unterholz hinein – Gott sei Dank war es noch hell genug, so würde sie sich nicht verirren.
Da nahm sie plötzlich schwachen Rauchgeruch wahr, aber nicht von der Lichtung her, sondern aus der entgegengesetzten Richtung. Sofort fielen ihr all die Erzählungen über verheerende Waldbrände ein. Wegen der vielen Sümpfe brannte der Große Wald nur selten, aber wenn einmal ein Feuer ausgebrochen war, gab es aus dieser lodernden Hölle kein Entkommen mehr.
Pelagia sog die Luft ein und ging auf den verdächtigen Geruch zu. Und wirklich leuchtete kurz darauf gar nicht weit vor ihr ein zitterndes Flämmchen auf. Vielleicht ein Irrlicht?
Als sie das Feuer schon beinahe erreicht hatte, hörte sie plötzlich hinter sich ein Knacken; es war nicht sehr laut, aber offensichtlich von einem lebenden Wesen verursacht. Die Nonne erstarrte.
Dort hinter der Tanne bewegte sich etwas.
Vor Angst wie gelähmt, starrte sie in das Halbdunkel. Irgendetwas schwang dort rhythmisch hin und her. Plötzlich erkannte sie es – es war ein Wolfsschwanz! Aber er wedelte nicht etwa wenige Handbreit über dem Waldboden, sondern, so unglaublich es klingen mag, viel weiter oben, als säße das Tier auf einem Ast!
Pelagia schlug hastig das Kreuzzeichen und murmelte, während sie mit vorsichtigen Schritten zurückwich: »Gott ist unsere Kraft und unsere Zuflucht. . .«
Ein leises Knurren und seltsames Schnalzen kam aus dem Zwielicht, das der armen Nonne allerdings nicht so sehr grimmig als vielmehr spöttisch vorkam.
Da drehte sie sich um und stürzte davon, so schnell sie ihre Beine trugen.
Sie rannte in blinder Panik, stolperte über einen Baumstumpf und fiel hin, zerriss sich ihr Untergewand und merkte es nicht einmal, war gleich wieder auf den Beinen und jagte nur umso schneller weiter.
Kreidebleich, die Lippen blutig gebissen, schoss sie aus dem Unterholz hervor auf die Lichtung.
»Was ist los? Ein Bär?« Dolinin stürzte auf sie zu und riss den Revolver aus seinem Gürtel. Die Polizisten langten nach ihren Gewehren.
»Nein . . . nein«, hauchte Pelagia und rang nach Luft. »Es ist nichts.«
Beim Anblick des Feuers und ihrer Begleiter, die friedlich ihre Pfeifen schmauchten, kam sie sich auf einmal albern vor. Ein Wolf auf einem Ast, noch dazu schnalzend? Dieser Wald konnte einen wirklich ganz wirr machen.
»Alles ist gut«, sprach ihr Sergej Sergejewitsch leise zu und führte sie zur Seite. »Sie sind ja vollkommen außer sich! Eigentlich sind Sie doch gar nicht so schreckhaft! Was ist denn passiert?«
»Dort war ein Wolf . . . Aber, es war ganz seltsam . . . Es sah aus, als säße er auf einem Baum. Und dann war dort ein Feuer . . . Ich dachte plötzlich an Struk, den Waldgeist, wissen Sie«, erzählte Pelagia und lächelte gezwungen.
Aber Dolinin blieb ernst. Er schaute konzentriert in das nachtblaue Dickicht hinter ihr.
»Na gut, dann werden wir mal nachsehen, was das für ein Struk ist. Führen Sie mich hin?«
Dolinin ging voraus und leuchtete mit einer Lampe. Selbstsicher schritt er vorwärts, ohne sich zu verstecken, die Zweige knackten laut unter seinen Füßen, und allmählich schrumpfte ihre Angst in sich zusammen.
»Da hinten«, sagte die Nonne und deutete nach vorn, als sie an dem schrecklichen Ort angekommen waren. »Das ist die Tanne.«
Sergej Sergejewitsch schob energisch die grünen Nadeln auseinander und beugte sich zur Erde.
»Ein abgebrochener Zweig«, sagte er. »Da muss jemand draufgetreten sein, und zwar erst vor ganz kurzer Zeit. Schade, dass hier so viel Moos ist, sonst könnten wir vielleicht Spuren finden.«
»Er . . . Er hat geknurrt«, sagte Pelagia kläglich. »Es klang irgendwie spöttisch, gar nicht wie ein Tier. Und vor allem, der
Schwanz, der war so hoch.« Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und zeigte, wie hoch. »Ehrenwort? Und das Flämmchen ist verschwunden . . . und nach Rauch riecht es auch nicht mehr. . .«
Es war ihr selber peinlich, was für einen Unsinn sie redete.
Aber Dolinin spottete auch jetzt nicht. Er schnupperte:
»Doch, da ist etwas, ganz leicht . . . Wissen Sie, Mademoiselle, ich glaube an die Vernunft, ich fühle mich einer wissenschaftlichen Weltanschauung verpflichtet. Dennoch bin ich weit davon entfernt zu glauben, die Wissenschaft hätte alle Geheimnisse dieser Erde entschlüsselt – ganz zu schweigen von den Geheimnissen des Himmels. Es wäre naiv, sich einzubilden, die Gesetze der Physik und der Chemie könnten die Natur erschöpfend erklären. Nur sehr beschränkte Menschen können auf Dauer Materialisten sein. Sie sind doch nicht etwa Materialistin?«
»Nein.«
»Und warum wundern Sie sich dann so? Sie haben sich erschrocken, das ist nur verständlich, aber warum sollten Sie sich wundern? Sie sehen doch selbst, wo wir hier sind.« Mit einer ausholenden Geste umfing er die tiefe Dunkelheit, in die sich der Wald des Nachts einhüllte. »Wo soll schließlich das Böse, Unheimliche, Ungeheure hausen, wenn nicht in den Tiefen des Wassers und im Dickicht der Wälder?«
»Scherzen Sie?«, fragte Pelagia leise.
Sergej Sergejewitsch seufzte.
»Sie sind doch Nonne, also sagen Sie, existieren Gott und die Engel?«
»Ja.«
»Also gibt es auch den Teufel mitsamt seinem Gefolge. Das ist der einzig mögliche logische Schluss. Die Existenz des Weißen ist unmöglich ohne die Existenz des Schwarzen«, sagte der bemerkenswerte Untersuchungsführer und beendete damit das Gespräch. »Na gut, gehen wir Tee trinken.«
IV
Nur ein Traum?
Der wilde Tatar
Am Abend des vierten Tages erreichten sie Stroganowka.
Das Dorf bestand aus einer Hand voll unansehnlicher Häuschen, über eine weitläufige Wiese verstreut, die man wahrscheinlich schon zu unvordenklichen Zeiten dem Wald abgerungen hatte.
Vor zwei – oder dreihundert Jahren war dieses Anwesen, wie schon aus seinem Namen hervorging, im Besitz der Kaufleute Stroganow gewesen, jener Stroganows, die Sibirien eroberten. Übrig geblieben war aus jenen Zeiten ein großes Geviert aus morschen Balken – die Reste einer Burg – sowie einige Dutzend Bergwerksstollen, die an das Salzwerk erinnerten, das es irgendwann einmal hier gegeben hatte.
In dieser Gegend lebten raue Männer mit langen Bärten, Nachkommen der Vogelfreien im Gefolge der Stroganows, herumstreunendes Gesindel, das sich schon im sechzehnten Jahrhundert, von der Freiheit und Ungebundenheit dieser Region angelockt, hier niedergelassen hatte. Dass diese Siedler nicht von der friedliebenden, Ackerbau treibenden Sorte waren, erkannte man sofort – sei es am Nichtvorhandensein bestellten Bodens, sei es an den winzigen, schießschartenartigen Fensterluken in ihren niedrigen Katen oder an den Fellen, die an den geflochtenen Zäunen zum Trocknen aufgehängt waren. Die Stroganowkaer waren keine Ackerbauern. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt als Waldarbeiter oder kratzten Salz aus den vorsintflutlichen Gruben: graues, schlechtes Salz, das sie den Bauern der umliegenden Gegend für ein paar Kopeken verkauften.
Und hinter dem Kiefernwald, auf der anderen Seite des reißenden, steinigen Flusses, sah man schon die ersten Ausläufer des Uralgebirges.
Im Gemeindehaus sprach Dolinin mit dem Dorfältesten, einem mürrischen Greis, der genau so aussah, wie man sich einen richtigen Waldschrat vorstellt, über und über bedeckt von grauen, wie von Grünspan überzogenen Haaren. Außer dem Alten waren bei dem Gespräch zwei nicht mehr junge Männer zugegen, die ihre Münder nicht aufbekamen und die ungeladenen Gäste nur misstrauisch anstarrten.