Hätten sie nicht den Gemeindeältesten dabeigehabt, der ein Gevatter des Dorfältesten war, wäre wahrscheinlich gar kein Gespräch zustande gekommen.
Die Hauptsache, deretwegen sie angereist waren, klärte sich sofort.
Der Dorfälteste warf einen Blick in die geöffnete Kiste, bekreuzigte sich und sagte, das sei ganz gewiss Petka Scheluchin, gebürtig aus Stroganowka. Vor drei Jahren sei er fortgegangen, seitdem habe ihn niemand aus dem Dorf mehr gesehen.
»Unter welchen Umständen hat er seinen Wohnort verlassen?« fragte Dolinin.
»He?« Der Dorfälteste glubschte ihn verständnislos an. Er beherrschte ausschließlich die regionale Mundart, was die Verständigung mit ihm einigermaßen erschwerte. »Wat is?«
»Ich meine, warum ist er fortgegangen?«
»Tjoch, wech is wech. Ihm sein Jebü hamwa olingens anne Gemiende gegebn«, antwortete der Alte und umfasste mit einer weiten Geste die Kate, nebenbei gesagt ein ziemlich erbärmliches Anwesen mit niedriger Decke und grau von Spinnweben.
»›Olingens‹, das heißt ›im letzten Jahr‹«, übersetzte Pelagia. »Sie haben in Scheluchins Haus ein Gemeindehaus eingerichtet.«
»Merci. Aber ich habe ihn nicht nach dem Haus gefragt, ich möchte wissen, was für ein Mensch dieser Scheluchin war. Warum hat er das Dorf verlassen?«
»Ein . . .!«, sagte der Alte und sprach das Kraftwort so klar und deutlich aus, dass die Nonne die Nase rümpfte. »Ein Muulwacker und Modderlock, drewischer. Am Löjjen immer wie’n Drufappel, hernacher hamse jüm beim Bucksen gepackt.«
»Wie?«, fragte Dolinin und wandte sich hilflos an Pelagia.
Diese erklärte:
»Ein Prahlhans und Faulpelz, hat immerzu gelogen und wurde beim Stehlen ertappt.«
»Ich glaube, das ist unser Mann«, bemerkte Sergej Sergejewitsch. »Die Beschreibung stimmt jedenfalls. Und warum hat Scheluchin nun dieses paradiesische Fleckchen Erde so plötzlich verlassen? Fragen Sie ihn lieber, Schwester, bei mir klappt die Verständigung mit diesem Methusalem nicht so besonders gut.«
Pelagia fragte.
Der Dorfälteste wechselte einen Blick mit den schweigenden Männern und antwortete, Petka sei »mit einem wilden Tataren verschwunden«.
»Mit wem?«, fragten Sergej Sergejewitsch und die Nonne wie aus einem Mund.
»Der war nich von hier, so’n buttenicher. Wuurens geloopen is, weiß kainers.«
»Was ist denn ein buttenicher?« Dolinin sah seine Gehilfin nervös an. »Und dieses, was war das – ›wuurens‹?«
»Jetzt warten Sie doch mal«, unterbrach Pelagia den Untersuchungsführer mit einer brüsken Geste. »Sagen Sie, Großvater, woher kam denn der Tatar?«
»Niewuurens. Den hat Dummka gebracht.«
Jetzt war auch die Nonne ratlos.
»Wie bitte?«
Nach einem längeren und an Missverständnissen jeder Art reichen Wortwechsel stellte sich schließlich heraus, dass Dummka der Spitzname eines stummen und geistig zurückgebliebenen Mädchens aus dem Dorf war.
Bezüglich der Frage, wie Dummkas richtiger Name lautete, erhob sich zwischen den Ansässigen ein kurzer Disput.
Einer der Männer meinte, sie heiße Stjoschka, der andere sagte Fimka. Der Dorfälteste berichtete, das stumme Dummchen wohne bei Oma Bobricha, welche schon »sewwene Jahr aufm Schragen« liege. Dummka pflege die Kranke nach besten Kräften, und auch die »Gemiende« helfe, wo sie könne.
Eines Tages im Frühling, vor drei Jahren, habe diese gewisse Dummka, man wisse nicht woher, einen »Juchter« angebracht, welcher »vollkommen wild«, gewesen sei.
»Warum denn wild?«, fragte Pelagia.
»Wie ich sage, ganz wild. Wackelt mit’n Kopp, glustert mit die Augen und rawwelt, als wär er’n Mensch, aber nur all Rabrakel kommt da raus, ganz dodelich. ›Eh, fuani, eh, fuani‹, macht er. Ein Narrichter, so wie in die Städte vor die Kirche betteln.«
»Ein Narrichter? Er meint ein Verrückter?«, platzte Sergej Sergejewitsch, der angestrengt zugehört hatte, dazwischen.
»Nein«, antwortete die Nonne. »Er meint ein ›Gottesnarr‹. Sagen Sie, Großvater, wie war dieser Mensch denn gekleidet?«
»Wie so’n Schüdderupp eben, keine Hosen, bloß ’n kladeriches Hemde mit blaue Bisseke.«
»Was, was? Was für ein Hemd, Schwester?«
Pelagia drehte sich zu dem Untersuchungsführer um und sagte leise:
»Mit einem blauen Strick, als Gürtel . . .«
Dolinin stieß einen Pfiff aus.
»Da haben wir den Salat. Das heißt, das ist gar nicht Manuila da in unserer Kiste . . . Quod erat demonstrandum.«
»Warten Sie, warten Sie.« Pelagia wandte sich wieder dem Dorfältesten zu. »Und wie kamen Sie darauf, dass er ein Tatar war?«
Der Großvater warf der Nonne einen schiefen Blick zu und überließ es einem der Männer, ihr zu antworten:
»Donka, sach du’s ihr.«
»Wir sin inne Banja mit jüm, und da seh ich, de Snippel is jüm affkaddelt«, erklärte Donka. »Wie bei die Tataren.«
»Was, was?«
»Das habe ich jetzt mal verstanden«, bemerkte Sergej Sergejewitsch. »Der wilde Tatar war beschnitten. Kein Zweifel, das war Manuila. Er ist tatsächlich unsterblich, der Halunke . . .«
Im weiteren Verlauf des Gespräches klärten sich dann noch diverse andere Details.
Petka Scheluchin, der »lodderichste« Mensch von ganz Stroganowka, hatte aus irgendeinem Grund eine besondere Zuneigung zu dem »Wilden« gefasst, nahm ihn in seine Kate auf und folgte ihm auf Schritt und Tritt, wie einem leiblichen Bruder. Nach Aussage des Dorfältesten waren sie einander tatsächlich ähnlich – sowohl vom Körperbau als auch von den Gesichtszügen her. Petka nannte den Fremden sogar »großer Bruder«, der aber rief seinen fürsorglichen Begleiter »Scheluchai«.
»Nee, nicht Scheluchai, Schelujak hat der Tatar zu ihm gesagt«, berichtigte Donka.
»Genau«, bestätigte der zweite Mann. »Schelujak. Und Petka hat drauf gehört.«
Der Untersuchungsführer ließ das Mädchen rufen, welches den Tataren ins Dorf gebracht hatte.
Man holte sie herbei und begann ihr Fragen zu stellen. Aber es war nichts Vernünftiges aus ihr herauszubekommen. Dummka mochte schätzungsweise vierzehn Jahre alt sein, war aber so klein und zurückgeblieben, dass man sie für zehn hätte halten können. Sie verstand nichts von dem, was sie gefragt wurde, und gab nur unartikulierte Laute von sich. Dabei kratzte sie sich die ganze Zeit mit schmutzigen Fingern ihren wirren Haarschopf und zog die Nase hoch.
Schließlich machte Dolinin eine resignierte Geste und gab auf.
»Also, Scheluchin hat sich mit diesem Hergelaufenen angefreundet, oder was?«, wandte er sich wieder an den Dorfältesten. »Und wie hat man sich das konkret vorzustellen?«
Mit einem schweren Seufzer über den hoffnungslosen Sergej Sergejewitsch schickte sich Pelagia an, seine Frage in die Stroganowkaer Mundart zu übersetzen – sonst wäre es weitergegangen wie bei Hamlet und den Totengräbern: (»Sie wissen ja, mein Herr – in unserer, der Dänischen«). Und plötzlich, rein zufällig, schaute sie zu Dummka, die sich an der Tür herumdrückte. Jetzt, da die Erwachsenen sie nicht mehr beachteten, hatte sich ihr Gesichtsausdruck verändert: In ihren leeren Augen glühte ein Funken auf, der Anschein von Einfältigkeit war verschwunden. Sie lauschte dem Gespräch, und wie begierig!
»Gehst du wech!«, fuhr sie der Dorfälteste an.
Widerwillig ging sie hinaus.
Das Gespräch über den »Wilden« wurde fortgesetzt.
»Womit hat denn der Tatar den Petka so für sich eingenommen?«, fragte Pelagia.
»Petka, der fluutiche Löjjeneer, hat gesacht, der Wilde hätt ihm vom Heiligen Land erzählt und wie man richtich leben soll.«
»Wieso ›Lügner‹?«