»Ach was, wir werden uns schon nicht verirren. Das hat ohnehin alles schon viel zu lange gedauert. Ich dachte, es handele sich um eine Staatsangelegenheit, und herausgekommen ist ein blauer Wind.«
Aha, das ist also ihr Versteck, dachte die Nonne, als sie ein würfelförmiges Haus am Flussufer entdeckte und meinte, das Knarren eines Mühlrades zu hören.
»Ich kann nicht einfach so wegfahren«, sagte sie bestimmt. »Der Dorfälteste will keinen Priester aus Stariza kommen lassen, er sagt, man könne keine Pferde erübrigen, und außerdem koste es Geld. Was soll jetzt werden, soll der Mensch wie ein Hund verscharrt werden? Ich kann zwar nicht das Totenamt abhalten, dazu bin ich nicht befugt, aber wenigstens will ich ein Gebet am Grabe sprechen. Das ist meine Pflicht. Und Sie sollten sich keine Vorwürfe machen, mein Herr. Wären wir nicht hierher gekommen, hätten Sie Ihren Vorgesetzten berichtet, Manuila sei tot, und irgendwann hätte sich dann herausgestellt, dass es gar nicht stimmt. Das hätte Sie in eine peinliche Lage gebracht.«
»Das ist natürlich richtig, aber trotzdem . . .«, brummte Sergej Sergejewitsch, den die erfolglose Expedition anscheinend ernstlich verstimmt hatte. Sicher hatte sich der ehrgeizige Reformator schon auf den Titelseiten der Zeitungen gesehen. »Also gut. Dann bringen Sie Scheluchin gleich morgen unter die Erde. Aber so früh wie möglich, bitte. Verflixt, schade um die Zeit!«
Zum ersten Mal über den Hahn
Pelagia wünschte dem Untersuchungsführer eine gute Nacht, sagte, sie werde sich selber um ihre Unterkunft kümmern, und eilte zum Fluss.
Sie lief die Dorfstraße entlang, an geflochtenen Zäunen vorbei, hinter denen leise die Stroganowkaer Hunde knurrten, die nichts mit gewöhnlichen Dorfkötern gemein hatten, sondern eher wie Wölfe aussahen. Dann ließ sie die Häuser hinter sich und trat auf das freie Grasland hinaus. Das Rauschen des Flusses verstärkte sich. Als sie fast bei der Mühle angelangt war, einem aus massiven Holzstämmen gefügten Gebäude, kam ihr eine schmächtige Gestalt entgegengelaufen.
Das Mädchen stürzte ungeduldig auf die Schwester zu, klammerte sich mit ihren rauen Händen an deren Arm und fragte:
»Lebt er? Lebt er noch?«
»Wer?«, fragte Pelagia verwundert.
»Amanuel.«
»Du meinst Manuila?«
»Amanuel«, wiederholte Dummka. »Er heißt Amanuel.«
»Woher weißt du das denn?«
»Er hat so gemacht« – das Mädchen tippte sich mit dem Finger auf die Brust – »und gesagt: Amanuel, Amanuel. Er hat noch viel gesagt, aber ich hab nicht verstanden. Ich war ja noch klein und ganz dumm.«
Wahrscheinlich Manuel, überlegte Pelagia. Und daraus haben die einfachen Leute später Manuila gemacht, als der geheimnisvolle »Tatar« über die Dörfer zog und predigte.
»Er lebt, dein Manuel, er lebt«, beruhigte sie Dummka. »Ihm ist nichts geschehen. Weißt du was, erzähl mir doch mal, wo du ihn gefunden hast.«
»Ich hab ihn ja gar nicht gefunden, das war Beljanka.«
Und Dummka erzählte Pelagia eine wundersame Geschichte. Die Nonne hörte ihr gespannt zu und wunderte sich, wie gut sich die vermeintlich Stumme ausdrücken konnte – viel gewandter und farbiger als der Dorfälteste.
Die Geschichte aber ging so:
Es begann damit, dass Beljanka aus dem Geflügelhof der Gemeinde, den die kleine Dummka betreute, weggelaufen war. Beljanka war eine Legehenne mit äußerst »knurrichm«, das heißt zänkischem Charakter. Der Geflügelhof befand sich auf der anderen Seite des Flusses, also konnte sich die Flüchtige entweder irgendwo im Gestrüpp verkrochen haben, oder man musste sie noch ein Stück weiter weg, bei den »Steinen« (Felsen), suchen.
Dummka durchkämmte sämtliche Sträucher in der Umgebung, aber Beljanka war nicht zu finden. Zu allem Unglück gehörte die Legehenne dem ältesten Sohn des Dorfältesten, Donka, der ein übler Raufbold und Wüterich war. Dummka hatte »rasiche« Angst vor ihm.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste zu den »Steinen« gehen und dort suchen. Sie rief und lockte, gackerte wie ein Huhn, jammerte und flennte, aber nichts half.
So gelangte sie zum Teufelsstein. Dorthin wäre sie nie im Leben freiwillig gegangen, schon gar nicht allein.
»Warum nicht?«, fragte Pelagia. »Was ist das denn mit dem Teufelsstein?«
»Ein furchtbar schrecklicher Ort!«
»Warum denn schrecklich?«
»Von wegen dem Herrn.«
Und Dummka erzählte, dass dort am Teufelsstein vor langer, langer Zeit einmal ein fremder Herr verschwunden war. Davon hatte ihr das Omelchen erzählt, als es noch nicht »vom vielen Liegen« die Sprache verloren hatte. Und Oma Bobricha hatte es wiederum von ihrem Großvater.
Nämlich vor hundert Jahren, oder vielleicht war’s sogar noch früher, jedenfalls da kam einmal ein feiner Herr nach Stroganowka, der suchte nach Schätzen, nach Gold und Edelsteinen. Er kraxelte in den Bergen herum, wo keiner von den Hiesigen je die Nase hinsteckte, weil es da ja nichts zu holen gab, buddelte in der Erde und stieg in die »Bäuche » (Höhlen) hinunter. Auch in den Bauch vom Teufelsstein kroch er hinein. Und er nahm einen Hahn mit.
»Wozu denn?«, fragte die Nonne verständnislos.
»Na, wenn du dich in dem Bauch verläufst, dann lässt du den Gockel laufen, der findet immerall (ganz bestimmt) einen Durchschlupf.«
Aber der Hahn hatte dem feinen Herrn nichts genutzt. Beide verschwanden auf Nimmerwiedersehen – weder Mann noch Hahn fanden aus der Höhle heraus. Ein paar Mutige aus dem Dorf stiegen in die Höhle, um die Vermissten zu suchen. Man fand: von dem feinen Herrn die Pelzmütze, von dem Hahn eine Schwanzfeder – sonst nichts. Klarer Falclass="underline" Der Teufel hatte sie geholt, denn das war ja sein Stein.
Dummka hatte also schreckliche Angst, dorthin zu gehen, aber ohne Beljanka zurückzukommen, das ging auch nicht.
Sie lief immer »ummendum« den verhexten Felsen (um ihn herum), »jibberte« (weinte) und zitterte am ganzen Körper, und auf einmal hörte sie ein Geräusch: Es klang, als krähte ein Hahn, aber ganz dumpf, als befände er sich unter der Erde. Sie schaute hinter einem großen Findling nach – und fast blieb ihr das Herz stehen: Hinter einem Busch klaffte schwarz ein Spalt im Fels, und genau dort kam das Kikeriki heraus.
Als sie begriff, dass dies die Höhle jenes feinen Herrn war, traute sich Dummka lange nicht, sie zu betreten. Wenn dieser Hahn da drin am Ende genau der war, den der Teufel geholt hatte? Vielleicht war ja dann der feine Herr auch dort, der verschwundene! Oh, wie schrecklich!
Sie bekam eine solche Angst, dass sie bestimmt davongelaufen wäre, wenn sie nicht plötzlich ein Gackern aus dem Höhlenloch gehört hätte, ein wohl vertrautes Gackern – das war Beljanka!
Also war sie da drin, in der Höhle!
Sie bekreuzigte sich schnell (beten konnte sie ja nicht, weil sie »sprechlos« war), und dann kroch sie durch den Spalt, um Beljanka herauszuholen.
Zuerst war es ganz finster, sie konnte gar nichts erkennen. Als sie sich ein bisschen an die Dunkelheit gewöhnt hatte, bemerkte sie einen weißen Fleck – Beljanka. Sie gleich zu ihr hin, aber da war ein Hahn bei ihr, so ein forscher, »jipericher«, immerzu wollte er auf das Huhn drauf. Und auf einmal sieht sie, da hinten liegt ein bärtiger Mann in einem weißen Hemd (jedenfalls kam es Dummka so vor) und schnarcht.
Hätte der Mann nicht geschlafen, wäre sie gleich weggesaust vor Angst, und keine zehn Pferde hätten sie noch mal an diesen schrecklichen Ort gebracht. Aber vor einem, der schläft, braucht man doch keine Angst haben, oder? Das heißt, natürlich hatte sie Angst, am Anfang, aber dann guckte sie ihn noch mal ein bisschen genauer an und fand, dass er gar nicht so schrecklich aussah. Da hat sie ihn aufgeweckt und ins Dorf gebracht, und den Hahn auch.