Doch, dachte Pelagia mit hängendem Kopf, genau so war es.
Sie erinnerte sich daran, wie ihr das Herz stockte, als er die unmöglichen Worte zu ihr sagte – dass es keine wie sie auf der Welt gebe und dass, wäre sie nicht eine Nonne . . .
Ach, welche Schande! Oh, wie furchtbar!
Aber das Schlimmste war, dass Sergej Sergejewitsch mit seiner schrecklichen Geschichte von der Schwefelsäure in ihrem Herzen eine gewisse Saite berührt hatte. Und es gibt nichts Gefährlicheres, als wenn im Herzen einer Frau, welches von bedingungsloser Selbstzucht wie in einem Käfig gehalten wird, plötzlich ganz zart eine gewisse schon so lange und vermeintlich für immer gerissene Saite erklingt. . .
Die Schwester bekam einen solchen Schreck, dass sie unverzüglich ein Gebet zu sprechen begann, das sie vor der Versuchung schützen sollte.
Aber der Schreck brachte sie auch zu einer Entscheidung.
Pelagia stieg die Vortreppe hinauf, durchquerte die Diele und klopfte an die Tür zur Stube. Sie wartete einen Moment, damit Sergej Sergejewitsch Zeit hätte, sich zu fassen und die Tränen aus den Augen zu wischen, dann trat sie ein.
Dolinin erhob sich und sah die Nonne erstaunt, fast ein wenig erschrocken an, als hätte sie ihn auf frischer Tat ertappt. Das überzeugte sie umso mehr von der Richtigkeit ihrer Entscheidung.
»Wissen Sie was«, erklärte Pelagia. »Warten Sie nicht auf mich. Fahren Sie los, heute noch. Wozu sollen Sie sich hier herumplagen, Sie können ja nicht einmal schlafen. Ich bleibe für ein paar Tage in Stroganowka. Wenn ich schon einmal in solch einen entlegenen Winkel gekommen bin, wofür ich Ihnen zu danken habe, dann kann ich auch gleich meine Arbeit tun. Immerhin bin ich Schulleiterin. Ich sehe mich ein wenig um, rede mit den Bauern und dem Dorfältesten, vielleicht kann ich ja die kleineren Mädchen in unsere Schule mitnehmen. Dann müssen sie nicht hier ohne jede Bildung aufwachsen, nicht wahr?«
Dabei dachte sie: Stimmt, ich könnte dann auf jeden Fall auch Dummka mitnehmen, und für ihr Omelchen finden wir bestimmt einen Platz im Klosterspital.
Sie war sicher, dass Dolinin versuchen würde, ihr diesen Plan auszureden. Vielleicht würde er sogar böse werden.
Aber der Untersuchungsführer sah sie nur an und sagte kein einziges Wort.
Weiß er etwa den wahren Grund?, dachte Pelagia erschrocken. Bestimmt weiß er es, er ist doch so ein kluger, sensibler Mensch.
Sie wandte den Blick ab, vielleicht errötete sie sogar – ihre Wangen jedenfalls waren glühend heiß.
»Tja, es ist wohl besser so . . .«, sagte Sergej Sergejewitsch. Seine Stimme klang rau, das Sprechen schien ihm schwer zu fallen.
»Es wird alles gut,« sagte Pelagia leise und zärtlich. »Es wird alles gut. . .«
Mehr durfte sie nicht sagen, und auch das war eigentlich schon zu viel. Die Worte selbst, überdies nur undeutlich gemurmelt, waren zwar nicht ungebührlich, aber der Ton, in dem sie gesprochen wurden, war ganz und gar unstatthaft.
Dolinin spürte diesen Ton, und seine Augen funkelten böse, beinahe hasserfüllt auf.
»Na dann, leben Sie wohl, leben Sie wohl«, knurrte er.
Und wandte sich ab.
Schrie seine Untergebenen an:
»Was liegt ihr hier faul rum, ihr könnt mich mal . . .! Hoch mit euch!«
Das sagt er absichtlich so grob, das mit dem »ihr könnt mich mal«, dachte Pelagia. Um mich zu verscheuchen.
Ein seltsamer Mensch. Jemand wie er hat es nicht leicht auf der Welt. Und die Menschen haben es bestimmt auch nicht leicht mit ihm.
Sie verbeugte sich vor dem zornigen Rücken des Untersuchungsführers und verließ die Kate.
Pelagia beschloss, die Nacht im Gemeindehof zu verbringen, in der Scheune. Dort war es nicht so stickig wie in der Kate, und es gab hoffentlich auch keine Kakerlaken.
Sie stieg über die Leiter zum Heuboden hinauf, lockerte ein wenig das zusammengedrückte Heu auf und legte sich hinein. Deckte sich mit einem Plaid zu. Befahl sich zu schlafen.
Zu verschlafen hatte sie keine Angst. Pelagia hatte sich die Scheune nämlich auch deshalb als Schlafstatt ausgesucht, weil sich darin der Hühnerstall befand. Gerade unter ihr, zu ebener Erde, gluckste und kollerte das versammelte Federvieh, und dort war auch ein ausgesprochen agiler Hahn am Werke, zweifellos ein Nachkomme jenes Gockels aus der bewussten Höhle. Das war ein Wecker, auf den sie sich verlassen konnte: Sein erster Schrei würde sie wecken; dann hatte sie noch etwas Zeit, um sich zu waschen und ihre Gedanken zu ordnen, und beim zweiten Hahnenschrei musste sie schon zur Mühle eilen, wo Dummka auf sie warten würde.
Sie hörte, wie Dolinins Leute unten im Hof die Pferde anspannten und das Gepäck aufluden.
Als die nervösen, abgehackten Befehle Sergej Sergejewitschs zu ihr heraufklangen, seufzte sie. Das Pferdegeschirr klirrte, die Räder quietschten. Die Expedition machte sich auf den Rückweg.
Pelagia seufzte noch ein bisschen, dann schlief sie ein.
Sie hatte einen schrecklichen und sündigen Traum.
Natürlich hatte sie früher auch schon des Öfteren furchtbare Träume gehabt, auch sündige. Jede Nonne träumt bisweilen Unkeusches. Seine Eminenz hatte ihr erklärt, dass man sich solcher Träume nicht zu schämen brauche, und er hatte ihr sogar verboten, sie zu beichten, weil es sich um bloße Chimären handele. Es sei nichts Sündiges dabei, im Gegenteil. Wenn ein Mönch oder eine Nonne in der Zeit des Wachseins den Dämon des Fleisches von sich fern hält, verbirgt er sich bis zur Schlafenszeit, und wenn dann des Menschen Wille schwach wird, kommt er aus der Unterwelt hervorgekrochen und schleicht sich in seine Seele, so leise wie eine Maus in der Nacht.
Aber dass ein Traum gleichzeitig schrecklich und unkeusch war, so etwas hatte Pelagia niemals zuvor erlebt.
Das Erstaunlichste dabei war, dass sie gar nicht von Sergej Sergejewitsch träumte.
Sie sah den Bauern Scheluchin, wie er dort auf dem Stuhl festgebunden saß. Er schien vollkommen lebendig, aber in Wirklichkeit war er tot. Seine Augen waren geöffnet, sie glänzten sogar, aber das kam bloß vom Nitroglyzerin, und sie waren nur deshalb offen, erinnerte sich Pelagia, weil die Augenlider von Watte gehalten wurden.
Sie sah sich den Toten genauer an, und plötzlich kam es ihr so vor, als wäre das gar nicht Scheluchin. Scheluchins Lippen waren schmal und bläulich gewesen, bei dem hier waren sie aber voll und leuchtend rot. Und auch die Augen waren irgendwie anders, sie waren stechend und lagen tief in ihren Höhlen.
Das ist ganz gewiss nicht Scheluchin, dachte die Schlafende. Er sieht ihm zwar ähnlich, aber er ist es nicht. Das ist kein anderer als Manuel. Und kaum hatte sie die Identität des Toten erraten, fing er plötzlich an, sich zu bewegen – er hatte sich nur tot gestellt.
Zuerst zwinkerte er, aber nicht mit beiden Augen gleichzeitig, sondern hübsch der Reihe nach – erst mit dem einen, dann mit dem anderen, er zwinkerte quasi zweimal. Dann leckte er sich mit seiner feuchten, leuchtend roten Zunge ganz langsam über seine purpurroten Lippen. Eigentlich etwas ganz Normales – jemand leckt sich die Lippen, aber Pelagia schien es, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nie etwas Schrecklicheres gesehen, sie stöhnte im Schlaf auf und warf ihren Kopf auf dem Heu hin und her.
Manuel riss seine riesengroßen Augen ganz weit auf und lockte die Schwester mit einem langen gelben Finger zu sich.
»Na, komm schon her, komm her«, flüsterte er.
Sie hätte weglaufen sollen, so schnell sie ihre Beine trugen, aber eine geheimnisvolle Kraft schob sie auf die sitzende Gestalt zu.
Eine harte, raue Hand streichelte der vollkommen willenlosen Pelagia über die Wange und den Hals, und sie empfand dabei Wonne und Scham zugleich.
»Meine Braut, meine Geliebte«, sagte Manuel in dem gedehnten, trägen Stroganowkaer Tonfall.
Dann strich die Männerhand ihr über die Brust. »Herr, Jesus Christus . . .«, betete die Nonne. Ein Finger des Propheten hatte ihre Halskette ertastet, zerriss sie mit einem kurzen Ruck und schleuderte das Kreuz in eine Ecke.