Bald weitete sich der Gang wieder und bildete eine Kaverne, die um einiges größer war als die tiefer gelegene.
Pelagia unterzog die Wände dieser Felskammer einer gründlichen Untersuchung und entdeckte insgesamt neun Öffnungen, einige davon geräumige Durchlässe, andere nur schmale Felsspalten. Welchen Weg sollte sie wählen?
Der Hahn war übrigens auch schon bis hierher vorgedrungen. Er hatte kein Quäntchen von seiner guten Laune verloren, lief munter hin und her und scharrte mit seinen Krallen überall herum.
Da erinnerte sich die Schwester an das, was ihr Dummka erzählt hatte: dass ein Hahn aus jedem Labyrinth herausfinde.
Sie hockte sich vor den Gockel hin und sprach ihm gut zu:
»Hans-Hähnchen, bring mich hier raus. Du bekommst auch einen ganzen Sack Hirsekörner von mir. Ja, Hänschen?«
Der Hahn drehte ihr sein Profil zu und sah sie an, er lauschte ihrer sanften Stimme, machte aber keinerlei Anstalten, sich irgendwohin zu begeben.
Schließlich riss Pelagia der Geduldsfaden, sie schnappte sich den begriffsstutzigen Gockel und brachte ihn der Reihe nach zu jeder der neun Felsspalten, setzte ihn davor auf den Boden und wartete ab, ob er hineinging oder nicht.
In der ersten Felsöffnung war er mit einem Husch drinnen – aber genauso schnell auch wieder draußen.
In die zweite steckte er nicht einmal den Schnabel hinein.
Aber in der dritten war er so flink verschwunden, dass Pelagia ihn sofort aus den Augen verlor.
Sie nahm die Lampe und zwängte sich eilig in den Spalt.
Dieser Gang war noch enger als jener, der sie von der ersten Kaverne zur zweiten geführt hatte. Wieder ging es steil nach oben. An einer Stelle, die wie ein Flaschenhals geformt war, wäre sie um ein Haar stecken geblieben. Mit großer Mühe kam sie wieder frei, aber die Lampe musste sie zurücklassen.
Vorsichtig mit Händen und Füßen nach Halt tastend, kletterte sie in völliger Dunkelheit weiter. Von dem eisig kalten Wasser, das an den Felswänden herablief, war sie nass bis auf die Haut und vollkommen durchgefroren. Aber das musste noch lange nicht heißen, dass es über ihr einen Ausgang gab; Wasser sickert bekanntlich durch jede winzige Ritze, manchmal sogar durch dichtes Gestein.
Ein schrecklicher Gedanke trieb die Nonne vorwärts: Gleich wird der Gang so eng, dass man sich gar nicht mehr bewegen kann. Das ist das Ende, ein furchtbares Ende, denn zurück kann ich nicht mehr. Ich werde in diesem steinernen Leichentuch feststecken, und niemand wird mich hier finden . . . Warum musste ich bloß diesem Hahn hinterherkriechen? Ich hätte lieber da unten sitzen bleiben sollen und auf Hilfe warten!
Wo steckt er überhaupt, dieses unselige Biest? Der kommt natürlich überall durch!
Erschöpft drückte Pelagia ihre Stirn an den nassen Fels und schloss die Augen.
Aber in diesem Moment ließ Hans-Hähnchen sein Signal ertönen – er schrie aus voller Hahnenkehle, irgendwo ganz nah über ihr:
»Kikker-ri-kiii!!!!«
Es war wohl gerade Zeit für den dritten und letzten Hahnenschrei.
Die Schwester schlug die Augen auf, hob das Gesicht und erblickte einen schwachen Lichtschimmer!
Sie stöhnte auf und kroch hastig darauf zu.
Der Himmel, bei Gott, der Himmel! Er strahlte unerträglich hell und stach ihr in die Augen.
Pelagia schob sich bis zur Hüfte aus dem Felsspalt heraus und atmete aus voller Brust die wonnevolle Luft der Freiheit. Neben ihr auf einem Stein saß Hans-Hähnchen und tat, als sei nichts geschehen. Er beachtete die Nonne überhaupt nicht und zupfte geschäftig mit dem Schnabel in seinem roten Gefieder herum.
Das Licht war indes gar nicht so grell, wie es der Schwester im ersten Moment vorgekommen war. Offensichtlich war der Tag eben erst angebrochen, die Sonne war noch nicht einmal hinter dem Horizont zum Vorschein gekommen.
Seltsam, Pelagia hätte schwören können, dass sie mehrere Stunden in ihrem unterirdischen Gefängnis eingesperrt gewesen war, aber der Färbung des Himmels nach zu urteilen konnte höchstens eine halbe Stunde vergangen sein. Was für eine geheimnisvolle Materie war das doch – die Zeit. Mal scheint sie stillzustehen, mal rast sie Hals über Kopf dahin, und keine Minute ist wie die andere, keine Stunde, kein Tag, kein Jahr.
Aber erst einmal musste sie jetzt herausfinden, wo sie gelandet war.
Da zeigte sich sehr schnell, dass sie gar nicht aus ihrem Loch herauskonnte. Der Spalt, in dem sie noch zur Hälfte steckte, befand sich nämlich in einer senkrecht abfallenden Steilwand; weder nach oben noch nach unten führte ein gangbarer Weg. Ein Hahn mochte in irgendwelchen Felsritzen noch genügend Platz für sich finden, aber ein Mensch ist ja kein Vogel.
Pelagia hatte sich anscheinend zu früh gefreut.
Sie beugte sich vor und stellte zu ihrem Schrecken fest, dass der untere Teil der Steilwand nicht nur senkrecht abfiel, sondern sogar ein Stück überhing. Unmöglich, dort hinunterzuklettern.
Springen konnte sie schon gar nicht, bis zum Grund waren es wenigstens zehn Klafter, und unten war alles voller spitzer Steine.
Wie kam sie hier nur heraus? Sie konnte doch nicht in die Höhle zurückkriechen, allein bei dem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken herunter. Und außerdem, welchen Sinn sollte das haben, der Ausgang war doch verschüttet.
Sie erkannte jetzt, dass sie sich genau oberhalb der Stelle befand, an der sie die Höhle betreten hatte. Da war der keilförmige Spalt, und auch die Büsche und der Einstieg selbst waren ausgezeichnet zu sehen. Aber er war gar nicht verschüttet, sondern vollkommen frei!
Sie traute ihren Augen nicht.
Wie war das möglich?
Konnte es sein, dass jemand in dieser endlosen halben Stunde, die sie in dem Berg eingeschlossen gewesen war, den Erdrutsch beseitigt hatte? Wohl kaum.
Das war ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger.
Da hörte sie unter sich ein Gepolter und Getöse, erst ganz leise, dann immer stärker und stärker.
Schon wieder ein Erdrutsch?
Die Nonne lehnte sich noch weiter vor, und plötzlich sah sie auf der Böschung oberhalb des Einstiegs einen Mann, der sich außerordentlich sonderbar benahm.
Mit einem gewaltigen Knüttel, den er als Hebel benutzte, lockerte dieser Mann gerade einen riesigen Felsbrocken. Kleinere Steine lösten sich von ihm und kullerten den Abhang hinunter.
Jetzt geriet der ganz dicke Block in Bewegung, und im nächsten Augenblick rumste er hangabwärts.
Aste krachten, und eine ganze Gesteinslawine donnerte auf die Büsche herab. Nun war der Einstieg völlig verschüttet.
Pelagia starrte wie gebannt, aber nicht etwa auf den Erdrutsch, sondern auf den Mann, der ihn ausgelöst hatte.
Genauer gesagt auf den Kopf des Übeltäters.
Sein Gesicht konnte sie von ihrer Position aus nicht erkennen, weil es von einer zottigen Mütze verdeckt wurde. Von dieser Mütze aber hing ein Wolfsschwanz herab, und dieser Schwanz war es, den die Nonne anstarrte.
Das war er, genau der war es! Struks Schwanz, der an jenem Abend dort im Unterholz von einem Tannenzweig herunterhing!
Ihre größte Angst war in diesem Moment, dass sie womöglich schlief und das alles bloß träumte. Vielleicht lag sie ja immer noch in der verschütteten Höhle und hatte einfach das Bewusstsein verloren. Gleich würde sie aufwachen und merken, dass sie sich alles nur eingebildet hatte: das Licht und die frische Luft, und es wäre nur ihr steinernes Gefängnis.
Sie kniff die Augen zusammen, bis ihre Lider schmerzten, und hielt sich die Ohren zu.
Nichts sehen, nichts hören!
Als es ihr vor Anstrengung in den Ohren zu summen begann, nahm sie die Hände fort und machte die Augen wieder auf.
Nein, das war kein Traum.
Da war der Himmel, dort die rosa Lichtreflexe von der aufgehenden Sonne, und unter ihr die Felswand.
Nur das Gespenst mit der Wolfsmütze war verschwunden. Das Werk seiner Hände aber war noch da – der hermetisch verschlossene Einstieg zur Höhle.