Oder war es doch Einbildung gewesen?
Pelagia unternahm keinen Versuch mehr, Dinge zu ergründen, die dem Verstand nicht zugänglich sind. Stattdessen betete sie. In solchen Situationen ist es ein Vorteil, Nonne zu sein: Wenn man nicht mehr weiterweiß, spricht man fix ein Gebet. Sie hatte ja genug davon gelernt, für jede nur denkbare Lebenslage: Gebete gegen den bösen Zauber, gegen die Dämonen der Dämmerung, gegen die Verfinsterung der Seele und noch viele andere mehr.
Aber es dauerte doch ziemlich lange, wohl ein oder zwei Stunden, bis sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Als sie endlich darüber nachdenken konnte, wie sie sich aus dieser misslichen Lage befreien sollte, war es bereits heller Tag.
Und sie hatte eine Idee. Hans-Hähnchen brachte sie darauf.
Er war es inzwischen wohl leid geworden, auf seinem winzigen Felsvorsprung herumzuhocken wie auf einer Stange.
Er gluckerte ein wenig vor sich hin, machte auf einmal einen Satz und sauste den Steilhang hinunter.
Er flatterte und rotierte wie ein Wilder mit seinen gestutzten Flügelchen und landete im Gleitflug unversehrt auf ebener Erde. Dort schüttelte er sich einmal kräftig und spazierte, ohne für seine unglückliche, verlassene Leidensgefährtin auch nur einen einzigen Blick übrig zu haben, den Pfad entlang.
Pelagia erwachte aus ihrer Erstarrung.
Das Tuch ist kräftig, sagte sie sich, und befühlte ihr Untergewand. Wenn ich es in Streifen reiße und diese dann zusammenbinde, ergibt das einen ziemlich langen Strick. Das Ende kann man an diesem spitzen Felsvorsprung befestigen.
Es wird natürlich nicht bis ganz nach unten reichen, aber das ist auch nicht notwendig. Vielleicht komme ich wenigstens bis zu der Stelle, wo vorhin der Wolfsschwanz war, das sind etwa fünf Klafter von hier aus, und von da ab ist es nicht mehr so steil. Und wenn das Seil nicht reicht, habe ich ja noch meine Strümpfe, die sind aus gutem Zwirn. Es wird schon irgendwie gehen.
V
Miezenhirn
Die Achillesferse
Der Bezirksstaatsanwalt Matwej Benzionowitsch Berditschewski hatte einen gewissen Hang zur pathetischen Ausdrucksweise, eine Gewohnheit, die noch aus der Zeit stammte, da er bei Gericht vor den Geschworenen zu agieren hatte. Im Alltag verhielt es sich in der Regel so, dass er zunächst ganz normal zu sprechen begann, dann nach und nach immer mehr in Fahrt kam, bis er sich vom eigenen Schwung mitreißen ließ, und schon flochten sich alle möglichen »fürwahr« und »allzumal« in seine Rede ein.
Auch jetzt hatte Berditschewski sachlich und mit der einem ernsten Gespräch im engsten Kreise angemessenen Zurückhaltung begonnen, aber wie üblich hielt es ihn nicht lange im Rahmen des Analytischen, und sein Vortrag rutschte unversehens ins Dithyrambische.
»Und überdies, verehrte Schwester«, sagte er und blickte von Mitrofani zu Pelagia, »fehlen mir, wenn Sie gestatten, fürwahr die Worte, um das Übermaß meines Entzückens ob Ihrer beispielhaften Geistesgegenwart und Gründlichkeit auch nur annähernd angemessen zum Ausdruck zu bringen! Jede beliebige andere Vertreterin des schwachen Geschlechts, ja wohl neun von zehn Männern wären nach einer solch schrecklichen seelischen Erschütterung ohne Zweifel einem Nervenzusammenbruch erlegen! Nicht aber Sie! Sie haben die Ermittlung auf die richtigste, das heißt allzumal qualifizierteste Weise durchgeführt, und überdies völlig allein, ohne Herrn Dolinin! Seien Sie meiner grenzenlosen Hochachtung vor Ihrem heldenmütigen Einsatz versichert!«
Die Nonne, angesichts einer solchen Fülle von Ausrufezeichen und derart überbordender »Hochachtung« in einige Verlegenheit gebracht, entgegnete, als wollte sie sich rechtfertigen: »Ich musste doch herausfinden, warum das Mädchen nicht zum Viehaustrieb gekommen war, nicht? Ich wollte wissen, wo sie steckte. Aber Sie haben nicht zu Ende erzählt, was mit den Flecken war.«
Matwej Benzionowitsch seufzte traurig und antwortete (wobei er sich einen winzig kleinen Schritt auf das Glatteis der wissenschaftlichen Terminologie wagte):
»Ich habe die Erde, die Sie vom Tatort mitgebracht haben, im Labor untersuchen lassen. Ihre Vermutung trifft zu, es handelt sich in der Tat um Blut, wie die Van-Deen-Reaktion mit einer Tinktur aus dem Harz des Guajakbaums beweist. Und die schwefeldiagnostische Untersuchung nach der Ulengut-Methode hat gezeigt, dass es sich bedauerlicherweise um menschliches Blut handelt.«
»Ach, wie schrecklich«, rief die Nonne aus und rang die Hände. »Ich habe es befürchtet! Er hat das arme Ding umgebracht, sie in irgendeine Felsspalte geworfen und mit Steinen zugedeckt. Sie ist meinetwegen ums Leben gekommen! Was wird jetzt bloß aus ihrem ›Omelchen‹?«
Und sie brach in Tränen aus, womit sie sich schlussendlich ganz genau so verhielt, wie es sich für die oben erwähnten Vertreterinnen des schwachen Geschlechtes gehörte.
Mitrofani runzelte missmutig die Stirn – er konnte Frauentränen nicht ertragen, vor allem, wenn sie aus gutem Grunde vergossen wurden, so wie jetzt.
»Die Großmutter können wir ja in unserem Spital unterbringen, ich werde sie herbringen lassen. Aber was für ein Bösewicht dein Wolfsschwanz doch ist! Nicht genug, dass er dich umbringen wollte, man bedenke – eine Nonne, er hat auch noch das Kind auf dem Gewissen. Was hat ihm das arme Ding nur getan?«
»Er wollte ganz einfach verhindern, dass sie im Dorf erzählt, wohin sie die Nonne gebracht hat«, erklärte der Staatsanwalt und drückte ein sauberes Taschentuch in seinen Händen zusammen. Er hätte es gerne Pelagia angeboten, damit sie ihre Tränen damit trocknete, aber er konnte sich nicht dazu erkühnen.
Die Schwester wusste sich indes gut mit ihrem eigenen Taschentuch zu helfen. Sie betupfte sich die Augen, schnäuzte sich und fragte dann mit näselnder Stimme:
»Und was ist mit dem Stiefelabdruck? Habe ich ihn gut getroffen?«
Erleichtert, dass das Gespräch wieder eine weniger emotionale Richtung nahm, beeilte sich Matwej Benzionowitsch zu versichern:
»Mein Experte sagt, dass die Zeichnung des Abdrucks beinahe perfekt ausgeführt ist. Aber wie kommt es nur, dass Sie gar keine Angst hatten, ganz allein dort am mutmaßlichen Tatort!«
»Und wie ich Angst hatte.« Pelagia schluchzte kurz auf, hatte sich jedoch schnell wieder gefasst. »Aber was sollte ich machen? Als ich mich aus dem Teufelsstein befreit hatte und zurück nach Stroganowka kam, erfuhr ich dort, dass Dummka nicht zum Viehaustrieb erschienen war, und da war ich natürlich vollkommen außer mir. Ich bin zum Dorfältesten gelaufen und habe gesagt, dass man sie suchen müsse. Er hat keine Leute, sagt er mir da. Die sind alle bei der Arbeit, und außerdem ist es nicht weiter schade um sie – es ist ja bloß die Dummka, halb so schlimm. Ich bin dann auf demselben Weg zum Teufelsstein zurückgelaufen. Natürlich hatte ich Angst, aber ich habe mir gedacht: Warum soll der Verbrecher dort auf mich warten? Er ist doch schließlich überzeugt davon, sein Werk vollbracht zu haben. Ich kam also an den Teufelsstein und sah mich dort gründlich um. Auf dem Rückweg achtete ich nur auf den Boden, und unterhalb des Abhangs fand ich dann die Spuren: eine Schleifspur, mehrere dunkle Flecken und den Abdruck eines Stiefels. Die Dorfbewohner tragen keine Stiefel, nur Bastschuhe, ich habe mich später im Dorf eigens danach erkundigt. In ganz Stroganowka gibt es nur ein einziges Paar Stiefel, und die gehören dem Dorfältesten. Er zieht sie nur an den höchsten Feiertagen an, oder wenn er in die Stadt fährt. Aber sie haben eine ganz andere Sohle.«
»Ja, die Sohle ist in der Tat ungewöhnlich«, nickte Berditschewski. »Und das, erlaube ich mir zu bemerken, ist unser einziger Anhaltspunkt. Die Mütze mit dem Wolfsschwanz ist kein Indiz, solche Dinger stellen die Sytjaken schon seit Hunderten von Jahren her. Man kann sie für fünf Rubel auch bei uns in Sawolshsk auf dem Markt kaufen. Aber diese Stiefel sind was ganz anderes. Die Sohlen sind hochinteressant, wenn ich so sagen darf, sie weisen ein sehr spezielles Nagelmuster auf. Ich habe in meinem Amt eine Besprechung anberaumt, unter Hinzuziehung der besten Polizeibeamten und Ermittler des Bezirks. Hier, bitte sehr.« Er zog ein Notizbuch hervor und las: »Spitze eckig und stumpf. Beschlagen mit vierundzwanzig Nägeln, angeordnet in drei doppelreihigen Rhomben, Rand zehn Millimeter breit. Absatz quadratisch, mittelgroß. Folgerung: keine Fabrikware, sondern die hoch qualitative Arbeit eines Meisters, der seine eigene Handschrift hat. Das ist gut, denn es gibt uns einen Anhaltspunkt für die Suche«, erklärte der Staatsanwalt. »Weniger gut hingegen ist, dass es in unserem Gouvernement keinen solchen Meister gibt. Welche, äh, Schlussfolgerungen können wir demnach aus diesem Abdruck ziehen? Bringen wir die Formel de Parvilles zur Anwendung, der bekanntlich festgestellt hat, dass die Körpergröße eines Menschen das Produkt aus dem Faktor 6,876 mal der Länge seines Fußes ist, so ergibt sich, unter Berücksichtigung einer Differenz von vier, fünf Millimetern zwischen Fuß – und Schuhsohlenlänge, eine Größe des gesuchten Subjektes zwi-sehen 1,78 und 1,84 m, das heißt also, er muss ziemlich groß sein.«