Die Kritik von unten war um einiges lästiger. Die Lehrerinnen im Range einfacher Ordensschwestern waren freilich Gehorsam gewohnt und wären niemals auf den Gedanken gekommen, den Willen der Schulleiterin in Frage zu stellen, aber die weltliche Lehrerin Maria Wikentjewna Swekolkina, die erst vor kurzem das Lehrerseminar in Moskau abgeschlossen hatte und in der noch das Feuer der Aufklärung glühte, machte Pelagia das Leben reichlich sauer.
An dieser Stelle müssen wir erklären, worin das Wesen von Pelagias Reformen bestand.
Die Schulzeit an der bischöflichen Lehranstalt dauerte vier Jahre, und in so einer kurzen Frist kann man den Schülern natürlich nicht viel beibringen. Deshalb entschied Pelagia, den Unterricht auf lediglich vier, ihrer Meinung nach unverzichtbare Fächer zu beschränken. Weniger, aber dafür besser, so lautete das Motto der Schulleiterin. Schweren Herzens strich sie die Naturwissenschaften aus dem Lehrplan, desgleichen die Geografie. Wenn sie die Schule erst einmal beendet hatten, würden die Mädchen, die allesamt aus armen Familien stammten, die Gesetze der Physik und die Hauptstädte fremder Länder sowieso schneller wieder vergessen, als sie sie gelernt hatten. Wichtigstes Fach wurde die Hauswirtschaft, für die sie die Hälfte der zur Verfügung stehenden Unterrichtsstunden ansetzte, daneben behielt sie die Fächer Gymnastik, Literatur und Katechismus bei; zu Letzterem gehörte auch der Gesangsunterricht.
Ihre Auswahl begründete sie folgendermaßen:
Für eine künftige Ehefrau und Mutter ist es nun einmal am wichtigsten, über Haushaltsführung Bescheid zu wissen, Gymnastik (während der Sommermonate vor allem Schwimmen, in der kalten Jahreszeit Übungen im Saal sowie kalte Güsse zwecks Abhärtung) sind der Gesundheit und der Figur in gleichem Maße zuträglich. Literatur wiederum ist unabdingbar für die Ausformung edler Gefühle und einer korrekten Ausdrucksweise. Und was die Frage nach dem Zusammenhang von Katechismus und Singen anging, so vertrat sie die Auffassung, dass die Kinder am einfachsten und natürlichsten über die Musik Zugang zum Allerhöchsten finden.
In kürzester Zeit war der Schulchor in der ganzen Sawolshsker Region bekannt und berühmt. Sogar der Gouverneur von Gaggenau musste sich bisweilen eine Träne der Rührung aus dem Auge wischen, wenn die Schülerinnen (jede in braunem Kleid und weißem Tuch) mit Engelsstimmen tirilierten: »Meine Seele preiset Gott den Herrn« oder »Herzallerliebster«.
Der renitenten Seminaristin gegenüber argumentierte Pelagia, dass man, falls eines der Mädchen Interesse an weiterer Lehre zeige, dieses ja auf Staatskosten in einer städtischen Schule unterbringen oder sogar, wenn es sich sehr begabt anstelle, aufs Gymnasium schicken könne. Die Gouvernementskasse stelle dafür spezielle Mittel bereit.
Aber Maria Wikentjewna Swekolkina wollte davon nichts hören. Stattdessen belegte sie die Schulleiterin mit einem beachtenswerten Sortiment von Schimpfwörtern, deren Ausgesuchtheit Pelagia manches Mal die Tränen in die Augen trieb: verzopfte Reaktionärin, muffige Nonne, olle Obskurantin und feige Steigbügelhalterin des männlichen Despotismus, der nichts anderes im Sinne habe, als die Frauen in den Käfig des Haushalts zu sperren.
Drei hektische Tage verbrachte Pelagia mit der Erledigung von angesammelten Arbeiten sowie diversen Scharmützeln mit der Progressivistin. Aber sogar während dieser unruhigen Zeit passierte es immer wieder, dass sie mitten im höchsten Arbeitseifer plötzlich wie erstarrt stehen blieb und in tiefes Nachdenken versank.
An ihrem ersten freien Abend (das war am vierten Tag nach ihrer Rückkehr aus Stroganowka) begab sich die Nonne zur bischöflichen Residenz. Es war ihr gestattet, sich zu jeder Tageszeit dort aufzuhalten und in den bischöflichen Gemächern zu schalten und zu walten wie bei sich zu Hause. Davon machte sie jetzt Gebrauch.
Sie hatte allerdings keineswegs vor, Seine Eminenz zu belästigen. Sie wusste ja, dass er sich in der Zeit vor dem Zubettgehen seinen »Notizen aus meinem Leben« zu widmen pflegte, ein Steckenpferd, dem der Bischof erst seit kurzem frönte und welchem er sich völlig selbstvergessen hingab.
Übrigens war es beileibe nicht Ruhmsucht oder gemeiner Dünkel, der Mitrofani dazu trieb, sein Leben zu Papier zu bringen. »Das Leben fließt dahin«, sagte er, »wie viel bleibt mir noch? Eines Tages geht man fort, ohne den Reichtum, den man erworben hat, an jemanden weitergegeben zu haben. Denn die einmalige Lebenserfahrung eines Menschen ist doch sein einzig wahrer Reichtum, den niemand ihm nehmen kann! Und deshalb versündigt sich an den Mitmenschen, wer ihnen nicht seine Gedanken und Irrtümer, seine Leiden und Erkenntnisse mitteilt – sofern er die Fähigkeit besitzt, sie in Worte zu fassen. Ich bin keinesfalls so vermessen zu glauben, dass ich viele Leser finden werde, aber vielleicht mag der eine oder andere doch einmal zu diesen Blättern greifen und Nützliches zum Heile und zur Rettung seiner Seele daraus entnehmen.«
Allerdings gab der Bischof seine Epistulae niemals aus der Hand. Nicht einmal sein Sekretär bekam diese Zeilen zu lesen, er schrieb alles eigenhändig ins Reine. »Wenn ich mal tot bin, könnt ihr es lesen«, sagte er. Dabei war er doch gesund und kräftig und vollkommen klar im Kopf, was sollte also das Gerede vom Sterben?
Pelagia schlüpfte in die Bibliothek und begrüßte leise Vater Serafim Usserdow, der sich offenbar für seine Predigten irgendwelche Textstellen aus theologischen Büchern herausschrieb.
Das Predigen war Vater Serafims größte Leidenschaft. Seine Kanzelreden waren hochgelehrt, reich verziert mit unterweisenden Zitaten und vortrefflich in ihrer Dauer. Er pflegte sich lange und gewissenhaft auf seine Auftritte vorzubereiten. Betrüblich war nur, dass seiner Gelehrsamkeit nicht die ihr gebührende Aufmerksamkeit gezollt wurde. Wenn den Kirchgängern zu Ohren kam, dass der Gottesdienst von Vater Usserdow gehalten wurde, suchten sie für gewöhnlich ihr Heil lieber in einer anderen Kirche, und nicht selten kam es vor, dass der arme Vater Serafim seine Rednergaben vor einer Hand voll schwerhöriger alter Mütterchen und Greise entfalten musste, die in die Kirche gekommen waren, um ein wenig Weihrauch zu schnuppern und sich aufzuwärmen.
Mitrofani konnte einerseits nicht dulden, dass die Würde des Gottesdienstes solcherart litt, wollte andererseits den eifrigen Prediger aber auch nicht verletzen, weshalb er ihm die Ausübung seiner Rednertätigkeit seit einiger Zeit nur noch in der zur bischöflichen Residenz gehörigen Kirche gestattete, vor den Zellendienern und dem Gesinde, die nicht weglaufen konnten.
Als er Pelagia suchend die Bücherschränke abschreiten sah, bot der Sekretär höflich seine Hilfe an. Die Nonne bedankte sich, lehnte aber in bestimmtem Tone ab, denn sie wusste sehr gut: Wenn du den erst mal am Halse hast, lässt er nicht mehr locker, bis er dir alles aus der Nase gezogen hat. Und die Sache war höchst diffizil und keineswegs für Usserdows neugierige Nase bestimmt.
Vater Serafims Feder begann wieder über das Papier zu kratzen. Jetzt schlug er, wie auf der Suche nach Inspiration, sein Taschenbrevier auf und starrte hinein.
Pelagia biss sich auf die Lippen, um nicht loszukichern. Sie hatte ganz zufällig einmal gesehen, was für eine Art Brevier das war. Auf der Innenseite des Einbands war nämlich ein Spiegel angebracht – Usserdow war doch sehr von seiner eigenen Schönheit eingenommen.
Nach einer Weile verließ der Sekretär die Bibliothek, die Schwester jedoch schritt immer noch von einem Regal zum anderen, aber sie konnte und konnte nicht finden, wonach sie suchte – weder bei der katholischen Literatur noch bei den kanonischen Schriften, noch bei den Hagiographen. Sie schaute sogar in den Schrank mit den naturwissenschaftlichen Werken, aber auch dort wurde sie nicht fündig.