Da quietschte die Tür, und Mitrofani betrat den Raum. Er nickte seiner geistlichen Tochter zerstreut zu und trat an ein Regal; griff einen Band heraus, raschelte mit den Seiten. Wahrscheinlich brauchte er ein Zitat oder musste irgendetwas nachschlagen. Man sah ihm ganz deutlich an, dass er mit den Gedanken ganz weit weg war, irgendwo in der Vergangenheit.
Pelagia trat näher und stellte mit einem vorsichtigen Blick fest, dass der Bischof in den Tagebüchern Pjotr A. Walujews blätterte.
Sie räusperte sich. Keine Reaktion.
Da nahm sie das Wörterbuch »Althebräisch-Russisch« vom Tisch und ließ es auf den Boden fallen. Der Foliant wog bestimmt ein drittel Pud und machte einen solchen Radau, dass Mitrofani beinahe einen Satz in die Höhe tat. Er drehte sich um und klimperte mit den Wimpern.
»Entschuldigen Sie, Eminenz«, wisperte die Nonne, während sie den Wälzer wieder vom Boden auflas. »Ich bin mit dem Ärmel daran hängen geblieben . . . Aber wenn ich Sie schon einmal gestört habe . . . Ich suche ein ganz bestimmtes Buch. Erinnern Sie sich, nach dieser Geschichte in Kanaan haben Sie doch gesagt, Sie besäßen ein Buch über wundersame Höhlen von irgendeinem lateinischen Autor?«
»Bist du immer noch bei deinem Teufelsstein?«, fragte der Bischof. »Ja, es gibt ein Buch über Höhlen; bei der Mediävistik.«
Er trat zu einem großen Eichenschrank, fuhr mit dem Finger über die Buchrücken und zog ein Oktavbüchlein in einem altertümlichen Kalbsledereinband hervor.
»Es ist allerdings kein lateinischer Autor, sondern ein deutscher«, sagte Mitrofani und strich geistesabwesend über die verblichene Goldprägung. »Adalbert Wünscher, einer der jüngeren rheinischen Mystiker.«
Und damit war er verschwunden, hatte nicht einmal gefragt, was Pelagia eigentlich in diesem mittelalterlichen Werk zu finden hoffte. Das nennt man schriftstellerischen Schaffenstrieb.
Davon abgesehen, wusste die Schwester selber nicht so genau, wonach sie eigentlich suchte.
Unsicher schlug sie den Band auf und blinzelte angesichts der ungewohnten lateinischen Schrift.
»Tractatus de speluncis«, las sie. (»Traktat über die Höhlen«, lat.)
Darunter ein Epigraph: »Quibus dignus non erat mundus in solitudinibus errantes et montibus et speluncis et in cavernis terrae«. (»Denen die Welt nichts wert war,irrten in Wüsten und Bergen, in Höhlen und Kavernen der Erde umher«, lat.)
Behutsam blätterte sie die brüchigen Seiten um, vertiefte sich da und dort in eine Textstelle.
Im Prolog und den ersten Kapiteln zählte der Autor pedantisch alle sechsundzwanzig Erwähnungen von Höhlen in der Heiligen Schrift auf und fügte zu jeder Episode umfangreiche Kommentare und fromme Gedanken hinzu. So stellte er bezüglich des Ersten Buches der Könige in mittelalterlicher Treuherzigkeit ausführliche Erörterungen darüber an, ob König Saul nun wegen eines kleinen oder großen Geschäftes jene Höhle aufsuchte, in der David sich mit seinen Gefolgsleuten verborgen hielt. Unter Berufung auf andere Autoren sowie auf seine eigene Erfahrung wies Adalbert überzeugend nach, dass es nur ein einigermaßen gewichtiges körperliches Bedürfnis gewesen sein konnte, das den König in die Höhle trieb, da doch bei der Verrichtung geringfügigerer Notdurften der Mensch nicht in demselben Maße konzentriert zu sein pflegt und nicht solch »crattoritum et irrantum« (»Ächzen und innere Geräusche«, lat.) erzeugt. Und genau dies hatte ja zweifelsohne das gekrönte Haupt daran gehindert zu bemerken, wie David den Saum seines Kleides abtrennte.
Vom Lesen des mittelalterlichen Lateins ermüdet, wollte Pelagia das Werk des pedantischen Forschers schon beiseite legen. Geistesabwesend blätterte sie noch einige Seiten weiter, als ihr Blick auf die Überschrift »Capitulum XXXVIII de Speluncis Peculiaribus tractans«fiel. (»Kapitel XXXVIII, das von den Besonderen Höhlen berichtet«, lat.)
Sie begann zu lesen – und konnte sich nicht mehr losreißen.
»Dann aber gibt es noch Höhlen, die Besonderen genannt, die dem Menschen verborgen sind, solange er lebt. Diese Höhlen verbinden die körperliche Welt mit der nicht körperlichen, und jede Seele geht zweimal durch sie hindurch: wenn sie bei der Geburt in den Körper eintritt und wenn sie nach dem Tode den Körper verlässt. Nur stürzen die unlauteren Seelen aus der Höhle in die Feuerhölle hinab, die lauteren Seelen aber steigen in die himmlischen Sphären auf Die Besonderen Höhlen, deren Zahl einhundertvierundvierzig beträgt, sind durch die Gnade Gottes gleichmäßig über die Erde verteilt, eine je tausend Lig, damit der Weg der Seele zum Körper und zurück nicht zu lang sei, denn es gibt nichts Reinigenderes als diesen Übergang.
Die unserem Lebensraum am nächsten gelegene Besondere Höhle befindet sich in der Steiermark, nahe dem Berg Eisenhut, wie ein ehrwürdiger Mann aus der Stadt Innsbruck einst dem Vater Prior der Abtei Blaugarten berichtete. Den genauen Ort jedoch konnte oder wollte er nicht nennen.
Nun geschieht es bisweilen, und dies gar nicht selten, dass wohl eine Seele vor Gottes Richterstuhl gerufen wird, aber wieder auf die Erde zurückkehrt, weil sich die Barmherzige Muttergottes oder der Schutzpatron jenes Sünders für ihn eingesetzt hat. Es bleibt dann jedoch in dieser Seele eine dunkle Erinnerung an ihren Weg durch die Besondere Höhle zurück. Auch mir ist einmal ein solcher Mensch begegnet, dessen Seele sich schon vom Leib gelöst hatte, aber noch einmal zurückkehrte. Es handelte sich um einen Fuhrknecht, der vormals im Dienste des Landgrafen von Hessen gestanden, mit Namen Godehard aus Oberwald. Dieser Godehard war von seinem Ross gestürzt, mit dem Kopf auf einem Steine aufgeschlagen und für tot gehalten worden, jedoch am darauffolgenden Tage, als er in seinem Sarge lag und man schon die Totenmesse hielt, schlug er plötzlich die Augen auf und war wenig später gänzlich genesen. Er berichtete, seine Seele sei vom Körper getrennt gewesen und habe sich durch ein enges dunkles Gewölbe gezwängt, als plötzlich am Ende dieser Höhle ein grelles Licht erschienen sei und eine geheimnisvolle Kraft die verirrte Seele zurück auf die Erde gezogen habe. Der Vater Prior der Abtei Blaugarten, der bei dieser Schilderung zugegen war, fragte jenen Godehard, ob nicht jemand für ihn zur Heiligen Jungfrau Maria oder zum heiligen Godehard von Hildesheim gebetet habe, und es erwies sich, dass während der ganzen Zeit, da der Fuhrknecht wie tot dagelegen, sein Weib, welches ihren Godehard von Herzen liebte, ohne Unterlass für seine Seele gebetet hatte.
Vom Ansehen sind die Besonderen Höhlen nicht von den gewöhnlichen zu unterscheiden, aber wer zufällig sich in eine von ihnen verirrt, kann, so er eine empfindsame Seele besitzt, einen leisen, himmlischen Klang vernehmen. Ist jedoch seine Seele harthörig, so vernimmt er gar nichts, sondern spürt vielmehr nur den unüberwindlichen Wunsch, so schnell wie möglich aus dieser Höhe hinauszukommen und nie mehr dorthin zurückzukehren.«
Als Pelagia von dem »himmlischen Klang« las, erschrak sie und fühlte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. Doch die größte Erschütterung stand ihr noch bevor.
»Kummer und Unglück erwarten den, der bei Tagesanbruch in eine Besondere Höhle geraten ist und den Schrei eines roten Hahnes hört, denn dann ist er mit Seele und Körper im Raum zwischen den Welten, wo die Zeit nicht fließt (in intermundis ubi non est aemanatio temporis), gefangen, und er kann solcherart für alle Ewigkeit verschwinden oder in eine andere Zeit und sogar in eine andere Besondere Höhle geworfen werden.
Jener bereits erwähnte ehrwürdige Mann aus Innsbruck berichtete, wie einmal ein Geflügelhändler, von einem Unwetter überrascht, die Nacht in einer solchen Höhle verbrachte, ohne zu wissen, dass es sich um eine Besondere Höhle handelte. Er hatte einen Käfig bei sich, in dem ein Hahn und mehrere Hennen saßen. Dieser Mann hatte am Vorabend von Mariä Himmelfahrt die Höhle betreten, aber heraus kam er drei Monate früher, am Tag der Auffindung des Kreuzes Christi, zudem in einer ganz anderen Höhle, welche im Reiche des schottischen Königs Jakob gelegen waJaël und als er, zu Fuß und um Almosen bettelnd, wieder bei seinem heimischen Hause anlangte, wollte niemand ihm glauben, dass er im schottischen Königreiche gewesen, obgleich dieser Händler gemeinhin als ehrlicher Mann galt.