Überdies wurde mir berichtet von einem Jäger namens Rup aus Seeland, welcher einmal einen Hahnenschrei aus einer unterirdischen Höhle vernahm und im Glauben, ein Fuchs habe diesen Hahn gestohlen, in die Höhle kroch, um sich den Fuchspelz zu erbeuten. Als er wenig später in sein Dorf kam, erkannte ihn dort niemand mehr, er war volle zwanzig Jahre fort gewesen.
Und ein ligurischer Kaufmann erzählte nach seiner Rückkehraus China dem vornehmen Klaus von Weiler, welcher mir gut bekannt ist, eine Geschichte (dieses trug sich zu in der Stadt Lübeck, im Gasthaus ›Zur Fregatte‹ und in Gegenwart von Zeugen), die ihm, jenem Kaufmann, wiederum die Chinesen berichtet hatten. Die Geschichte handelte von einem Fischer aus dem Lande Japan, das im Ozean nahe dem Land des Presbyterkönigs Johann gelegen ist. Dieser Fischer war auf der Suche nach Austern bei Sonnenaufgang in eine Meereshöhle geraten, als in seiner Nähe eine rote Schildkröte zu schreien begann, welche im Lande Japan anstelle der Hähne den Tagesanbruch verkünden – zur Strafe dafüJaël dass die Menschen in diesem Lande sich nicht zum christlichen Glauben bekennen. Der Fischer schlief für einen kurzen Moment ein. Als er aber erwachte, zeigte es sich, dass er volle achtundachtzig Jahre geschlafen hatte. In seinem Heimatdorf konnte sich niemand mehr an ihn erinnern, und so wanderte er fortan heimatlos durch die Lande. Jene Chinesen haben ihn selbst gesehen, als sie nach Japan fuhren, um Gold zu kaufen, welches in diesem Königreich in unerschöpflicher Menge vorhanden ist und das dort so viel kostet wie Silber oder sogar Kupfer.
Warum aber der Schrei eines roten Hahns solch eine verwunderliche Wirkung auf die Seele besitzet, ist von mir in meiner ›disputatio hypothetica de rubri galli statu preelectu‹ (»Hypothetische Erörterung über die Auserwähltheit des roten Hahnes«, lat.) dargelegt worden, sodass ich über selbiges Thema an dieser Stelle nicht neuerlich schreiben will und Stattdessen in meinen Ausführungen fortfahre mit dem
Kapitel XXXIX, welches davon handelt, wie man in Höhlen essbare Pilze züchtet.«
Als sie an die Stelle mit dem roten Hahn kam, sprang Pelagia von ihrem Stuhl auf und las das Kapitel im Stehen zu Ende, so aufgeregt war sie auf einmal, und weil sie so in Schwung war, las sie auch gleich noch ein Stück von dem Kapitel über die Pilze. Alsbald aber stellte sie fest, dass die »Besonderen Höhlen« dort keine Erwähnung mehr fanden. Sie blätterte das Büchlein aufmerksam bis zu Ende durch, in der Hoffnung, mehr über jene »hypothetische Erörterung« zu finden, aber sie wurde enttäuscht.
Zornig klappte sie das Buch zu und stürzte ins Kabinett des Bischofs.
Mitrofani sah sie verdutzt an – das hatte es ja noch nie gegeben, dass seine geistliche Tochter zu dieser späten Abendstunde bei ihm eindrang, noch dazu ohne anzuklopfen.
»Eminenz, und die Erörterungen über den roten Hahn‹?«, fiel die Nonne mit der Tür ins Haus.
Der Bischof brauchte eine Weile, um von der Höhe seiner Gedanken auf den Boden der Wirklichkeit zurückzukehren.
»Hä?«, fragte er wenig würdevoll.
»Das Traktat über den roten Hahn, das dieser Adalbert geschrieben hat, wo ist das?«, fragte Pelagia ungeduldig.
»Was für ein Hahn?« Der Bischof staunte immer mehr. »Was ist denn bloß mit dir los, meine Tochter? Hast du Fieber?«
Als er dann endlich begriffen hatte, was die Schwester von ihm wollte, erklärte er, dass außer dem »Traktat über die Höhlen« keine weiteren Werke des besagten Adalbert Wünscher erhalten seien. Das Kloster, in welchem dieser Mystiker lebte und starb, sei während der Religionskriege vom Heer des Grafen von Nassau geschleift worden, und auch dieses einzige Werk sei nur aufgrund eines glücklichen Zufalls erhalten geblieben, weil das Manuskript sich nämlich beim Buchbinder befunden habe. Von einem Adalbert sehen Traktat über einen Hahn aber höre Mitrofani zum ersten Male.
»Im fünfzehnten Jahrhundert war es sehr modern, allen möglichen Tieren wundertätige Eigenschaften zuzuschreiben«, setzte der Bischof fort. »Es gab mehrere Scholastiker, die von der Idee der Zweiheit fasziniert waren. Demnach hat Gott alles paarweise geschaffen: Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Sonne und Mond, Wärme und Kälte. Diese Theoretiker suchten nun auch in der Tierwelt nach einer Entsprechung für die menschliche Gattung, also nach einer Kreatur, die Gott ausgewählt und ausgezeichnet habe gleich dem Menschen. Der eine schob diese Rolle den Ameisen zu, ein anderer den Delfinen, ein Dritter dem Einhorn. Dem Titel seines Werkes nach zu urteilen trat Adalbert dafür ein, dass die Hähne die Auserwählten seien, aber warum ausgerechnet die roten – das weiß Gott allein.«
»Also, Ameisen und Delfine, das kann man ja noch verstehen – ein Ameisenhaufen hat tatsächlich Ähnlichkeit mit der menschlichen Gesellschaft, und Delfine sind sehr klug. Und über die Einhörner konnten sich die mittelalterlichen Autoren ja zusammenfantasieren, was sie wollten, weil ohnehin nie jemand eins gesehen hat. Aber ein Hahn? Das verstehe ich überhaupt nicht! So ein zänkischer, dummer Vogel. Er tut doch nichts weiter als die Hühner besteigen und sich die Kehle heiser schreien.«
»Oho, Moment! «, widersprach ihr der Bischof mit erhobenem Zeigefinger. »Ganz so ist es nicht! Der Mensch hat von alters her ein ganz besonderes Verhältnis zum Hahn, schon zu vorchristlichen Zeiten war das so, und zwar bemerkenswerterweise überall auf der Welt, wo man den Gallus Domesticus antrifft. In China verkörpert er zum Beispiel das Prinzip Yang, das heißt die Kühnheit, die Gewogenheit, die Würde und die Treue. Und der rotgefiederte Hahn ist auch das Symbol der Sonne. Bei den alten Kelten, um den Blick wieder auf die andere Seite des Planeten zu richten, galt der rote Hahn als die Verkörperung der Götter der Unterwelt. Und in der griechisch-römischen Kultur steht der Hahn für die Erneuerung. Überhaupt wird dieser Vogel in den meisten Mythologien mit dem Morgenrot, der Sonne, dem Licht und dem himmlischen Feuer assoziiert, also mit der Entstehung neuen Lebens. Der Hahn vertreibt die Nacht und die Finsternis, die Angst und Blindheit, die sie begleiten.«
Solche Stehgreifvorträge, zuweilen aus den ungewöhnlichsten Anlässen, waren ein Steckenpferd Mitrofanis, und Pelagia lauschte ihnen jedes Mal mit großem Interesse. Aber niemals hatte sie ihm so begierig zugehört wie gerade jetzt.
»Nehmen wir das Christentum«, fuhr der Bischof fort. »In unserer Religion hat dieses Geflügel, für das du dich so lebhaft interessierst, ebenfalls einen besonderen Status. Bei uns gilt der Hahn nämlich als Symbol des Lichts, er begrüßt den Aufgang der christlichen Sonne und vertreibt die Mächte der Finsternis. Und Ostern, wenn wir der Leiden Christi gedenken, ist der Hahn das Sinnbild der Auferstehung. Ist dir bekannt, dass das Kreuz, welches heute allgemein das Symbol des Christentums ist, erst sehr spät, genauer gesagt in der Mitte des fünften Jahrhunderts, dazu wurde? Bis zu dieser Zeit verwendeten die Christen andere Symbole, und sehr oft stand gerade der Hahn als Sinnbild für den Sohn Gottes, der gekommen ist, um die Menschheit zu erlösen. Und denk auch an die Prophezeiungen des Salomo: ›Und wird sich der Mensch beim Ruf des Hahnes erheben – und alle Gesänge verhallen.‹ Nicht wahr, damit ist ja gemeint, dass der Hahn den Menschen den Tag des Jüngsten Gerichtes verkünden wird.«
Je länger Pelagia den gelehrten Worten Mitrofanis zuhörte, desto nachdenklicher wurde ihr Gesicht, und schließlich schien ihr Blick ganz und gar in sich gekehrt.