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Als der Bischof geendet hatte, stellte die Nonne keine weiteren Fragen mehr. Sie bedankte sich mit einer Verbeugung, entschuldigte sich, dass sie Seine Eminenz von seiner schriftstellerischen Arbeit abgelenkt hatte, und verabschiedete sich.

Die Höhle des Zyklopen

Die Schwester schickte sich an, die bischöfliche Residenz auf demselben Wege zu verlassen, auf dem sie gekommen war, das heißt, sie nahm nicht den längeren Weg über den Hof und durch das Tor, sondern die Abkürzung durch die Gartenpforte, zu der sie einen eigenen Schlüssel besaß.

In den Fenstern des Mönchstraktes waren die Lichter bereits erloschen, und auch die Laterne vor dem Haupteingang war schon aus. Doch am Himmel leuchtete hell der Mond, und die Nacht war klar.

Es roch nach frischem Laub, von der Apfelbaumallee her klang das Gemurmel des Brunnens herüber, und nach und nach fiel die Anspannung von der Nonne ab.

Der bischöfliche Garten galt als eine der Sehenswürdigkeiten der Stadt und wurde in mustergültiger Ordnung gehalten. Die schneeweißen, mit feinem Sand bestreuten Wege wurden mehrmals am Tage geharkt, sodass Pelagia das Gefühl hatte, nicht auf dem Erdboden zu gehen, sondern über die Milchstraße dahinzuwandeln. Um diese Schönheit nicht zu verletzen, lief sie nicht direkt auf dem Weg, sondern hielt sich ganz an seinem Rande.

Plötzlich bemerkte sie mitten auf dem schneeweißen, unberührten Streifen Fußspuren. Jemand war hier vor kurzem entlanggegangen, und zwar mit Sicherheit nach dem letzten abendlichen Harken.

Wer kann das wohl gewesen sein, überlegte Pelagia zerstreut, während sie mit ihren Gedanken immer noch bei den Höhlen und den roten Hähnen war. Es war nur sehr wenigen Personen gestattet, in dem Garten spazieren zu gehen, und schon gar nicht zu so später Stunde. Vater Usserdow vielleicht? Nein, schloss sie messerscharf, bei einem Geistlichen ist die Schrittlänge kürzer, weil ihn die Soutane behindert.

Sie rückte ihre Brille zurecht, und während sie ihren Gedankengang noch immer weiter verfolgte, behielt sie genau die Spuren im Auge, die in Richtung Pforte führten.

Plötzlich stöhnte die Schwester auf und fiel auf die Knie, beugte sich vornüber und brachte die Nase ganz dicht an den Boden. Stöhnte nochmals, noch lauter als vorher.

Eine eckige, stumpfe Spitze! Dieser Absatz! Und wenn man ganz genau hinschaute, waren auch die drei Rhomben zu erkennen!

Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Er ist es! Er ist hier gewesen! Vielleicht gerade eben, vor einer Minute! Er ist durch die Pforte nach draußen gegangen!

Sie sprang auf und wollte zum Haus zurückstürzen, machte aber sogleich wieder kehrt. Bis sie das Gesinde geweckt hatte, war er schon längst über alle Berge! Und auf der Straße, auf dem Kopfsteinpflaster, würden sich keine Spuren finden lassen!

Vielleicht war er ja noch ganz in der Nähe, und man konnte die Verfolgung aufnehmen!

Pelagia schürzte ihre Kutte und rannte los, wobei sie darauf achtete, nicht auf die Spuren zu treten, um sie nicht zu verwischen.

Was indes dieses unerwartete Erscheinen des Wolfsschwanzes in der bischöflichen Residenz zu bedeuten hatte, darüber dachte sie keinen Augenblick lang nach.

Die Spuren bogen von der Hauptallee auf einen Nebenweg ab, führten also doch nicht zur Pforte, sondern in einen entfernteren, abgelegenen Teil des Gartens.

Die Schwester blieb einen Moment stehen und überlegte, was dieses Manöver wohl zu bedeuten hatte. Aha, na klar: Der Bösewicht hat keinen Schlüssel, also will er bestimmt über den Zaun klettern.

Sie beschleunigte ihren Schritt.

Der Weg war schmaler als die Hauptallee und zu beiden Seiten von hohen Sträuchern eingefasst, deren Schatten die Spuren verschluckten. Aber dafür konnte man hier auch nur geradeaus laufen.

Dort war auch schon das Ende des Gartens. Links der Bretterschuppen, in dem im Herbst die Äpfel eingelagert wurden, dahinter der Zaun. Also nichts wie hin, den Kopf durch die Zaunlatten gesteckt und vorsichtig umhergespäht! Vielleicht war noch irgendwo in der Ferne eine davoneilende Silhouette auszumachen.

Wenn ja, dann fix über den Zaun und hinterher.

Und wenn es dann doch jemand anderes ist, kann man wenigstens fragen, wer ihm die Stiefel angefertigt hat. Und dann . . .

Jetzt war sie auf der Höhe des Schuppens. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte sie einen schwarzen Spalt – die Tür war nur angelehnt. Was für ein Schlendrian, dachte sie zerstreut.

Da flog die Tür plötzlich sperrangelweit auf.

Aus dem Dunkeln schoss ein langer Arm heraus, packte die Schwester am Kragen und zerrte sie mit einem Ruck in den schwarzen Schlund der Schuppentür.

Der Riegel klirrte.

Vor Überraschung wie betäubt und von der plötzlichen Dunkelheit blind, schrie Pelagia auf, aber sofort hielt ihr eine große, harte Hand den Mund zu.

»Hallöchen, meine hübsche Dampfermieze«, raunte es aus dem Dunkeln.

Da wusste sie sofort, wer das war. Nicht an der Stimme erkannte sie ihn, die hatte sie ja nur ein einziges Mal gehört; sondern an diesem ekelhaften Wort »Mieze«.

Das Glasauge (er war der Wolfsschwanz, Berditschewski hatte Recht) machte eine Pause, wahrscheinlich labte er sich an der Angst seiner Gefangenen.

Inzwischen schien ihr die Dunkelheit schon nicht mehr so undurchdringlich. Der Schuppen war ein luftig gebauter Bretterverschlag, überall gab es Spalten und Fugen, die man absichtlich gelassen hatte, damit die Äpfel atmen konnten, und zwischen den Brettern hindurch sickerte das Mondlicht herein.

Das Erste, was Pelagia sah, waren zwei glänzende Augen. Allerdings glänzten sie unterschiedlich, und welches von beiden das echte war, konnte sie nicht erkennen.

»Jetzt laufe ich dir schon so lange hinterher, dass es direkt schade wäre, dich gleich auf der Stelle abzumurksen«, sagte der schreckliche Mensch. »Du darfst noch ein bisschen weiterleben, ja? Aber nur unter einer Bedingung: Sobald du einen Pieps machst, ziehe ich dir einen Sack über dein hübsches Köpfchen, mit Troddeln!«

»Das ist gegen die Kleidervorschrift«, antwortete die Nonne dumpf durch die Hand hindurch.

»Was ist gegen die Kleidervorschrift?« Glasauge zog die Hand zurück.

»Ein Sack mit Troddeln, so etwas darf eine Nonne nicht tragen«, erklärte sie und hatte dabei nur den einen Gedanken: irgendetwas sagen, irgendwelchen Unsinn, nur um das Unvermeidliche für ein oder zwei Minuten hinauszuschieben.

Nicht etwa, weil sie auf Rettung hoffte, wer hätte sie hier schon retten sollen? Sondern um sich innerlich auf den Tod vorzubereiten und in Gedanken ein letztes Gebet zu sprechen.

»Verstehe, ein kleines Scherzchen! Sehr gut, Kleine«, sagte der Mörder anerkennend. »Du hast ein fixes Köpfchen. Wenn es nicht ganz so fix wäre, würdest du länger leben. Na, hast du so ein Dingelchen schon mal gesehen?«

Er zog einen Gegenstand aus der Tasche, der in seiner Hand seltsam zu schaukeln begann. Pelagia schaute genauer hin und erkannte ein Gewicht, das an einer Feder befestigt war.

»Meine eigene Erfindung«, prahlte Glasauge. »Trifft präzise auf einen guten Klafter Entfernung.«

Er machte eine kaum spürbare Bewegung mit der Hand. Die Feder streckte sich, man hörte ein pfeifendes Geräusch in der Luft, und auf einem Regal zersprang ein Tonkrug in tausend Stücke, den der Gärtner vermutlich für Trinkwasser benutzte. Das Gewicht aber schnellte in die Hand des Werfers zurück.

»Wie bist du eigentlich aus dieser Höhle rausgekommen? Eine ziemlich durchtriebene Mieze bist du, das muss man schon sagen. Sogar eine Zeichnung von meiner Sohle hast du gemacht! Aber mit dieser Sohle habe ich dich auch geködert, wie einen Fisch mit dem Wurm.«

Er lachte leise und triumphierend.

Am allerschrecklichsten war, dass die Schwester sein Gesicht nicht sehen konnte und sich auch nicht richtig daran erinnerte.