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Der Bischof verhielt einige Sekunden auf der Schwelle, schüttelte den Kopf und bekreuzigte sich.

Da schoben und drängten sich alle zugleich in den Schuppen, stießen bestürzte Rufe aus und bekreuzigten sich ebenfalls. Pelagia stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute dem Vater Wirtschafter über die Schulter.

Ein Rechteck bläulichen Mondlichts fiel auf den Boden, und man sah Glasauge in einer Ecke sitzend, den Rücken an die Wand gelehnt. Seine Hände umklammerten den zerbrochenen Schaft der Heugabel. Er hatte sich die scharfen Spitzen mit sol-eher Kraft in die Kehle gestoßen, dass die Zinken den Hals durchbohrt hatten und hinter ihm in das Holz eingedrungen waren.

In der Nacht, während der Bezirksstaatsanwalt und die Polizei ihre Pflicht taten (der Garten war von Laternen und Fackeln taghell erleuchtet), bekam Pelagia einen verspäteten hysterischen Anfall, von dem zum Glück außer dem Bischof niemand etwas mitbekam.

»Was für eine schreckliche Untat habe ich begangen, nur um mein Leben zu retten!«, grämte sich die Schwester und rang die Hände. »Ich habe vollkommen vergessen, wer ich bin! Ich habe mich benommen wie eine ganz gewöhnliche Frau, die Angst um ihr Leben hat. Aber ich bin eine Nonne! Ich habe nicht nach dem Gesetz Christi gehandelt, das von uns verlangt, dem Bösen auch die andere Wange hinzuhalten, sondern nach dem Gesetz Moses! Auge um Auge! Ich werde nie wieder stricken können, nie im Leben!«

Mitrofani, der im Hinblick auf die Eindämmung dieses ungestümen Drangs zur Selbstanklage eine gewisse gespielte Strenge für das zweckdienlichste Mittel hielt, fuhr seine geistliche Tochter in harschem Tone an:

»Na und, was heißt das schon: Du bist eine Nonne! Es gibt solche und solche Nonnen. Genau wie es solche und solche Mönche gibt. Nimm zum Beispiel Osljabja und Pereswet, die haben sogar mit der Waffe in der Hand für ihre Heimat und für die Gerechtigkeit gekämpft!«

»›Für die Heimat‹ und ›für die Gerechtigkeit – ist das etwa ein und dasselbe?«, entgegnete Pelagia in Tränen aufgelöst. »Jedes Volk hat seine eigene Heimat, aber die Gerechtigkeit ist für alle Menschen gleich. Ich kann an Ihrem Pereswet nichts Gutes finden. Für das Moskauer Fürstentum und für die Russen ist er natürlich ein Held, aber Christus hat sich doch nicht für das Moskauer Fürstentum und nicht wegen eines einzigen Volkes ans Kreuz schlagen lassen, sondern für alle Menschen. Und dieser Tatar Tschelibej, den Pereswet bezwang, hatte doch auch eine Seele. Ein Diener Gottes darf keine Waffe in die Hand nehmen, auch nicht, wenn jemand sein Leben bedroht. Ach Eminenz, es ist doch grausam für einen Menschen, der schon ein Auge verloren hat, sein anderes Auge auch noch einzubüßen! Bestimmt hat er furchtbare Albträume gehabt, dass er eines Tages ganz erblindet und so etwas . . . Und ich habe ihm nicht nur das Augenlicht geraubt, ich habe auch noch die Tür abgesperrt, damit er nicht wegläuft. Wie konnte ich nur so grausam sein! Wo hätte er denn schon hinlaufen können, blind, wie er war? Ich stelle mir vor, wie er nach dem Ausgang gesucht hat und immer gegen die Wände gelaufen ist, der Arme, weil er ihn nicht finden konnte . . . Wenn er ihn gefunden hätte, vielleicht hätte er ja seine unsterbliche Seele gerettet! Habe ich nicht Recht?«

Mitrofani, der sah, wie sehr sie sich quälte, legte seine strenge Miene ab und ergriff ihre Hand.

»Aber nein, nein, du hast Unrecht! Man muss sich dem Bösen widersetzen, ich bin absolut nicht einverstanden mit dem Grafen Tolstoi und seiner Deutung der Lehre Christi. Das Leben ist ein Kampf gegen das Böse. Wir dürfen nicht vor den Gaunern und Halunken dieser Welt kapitulieren. Du bist wie David, der Goliath besiegte, oder wie der heilige Georg, der den Feuer speienden Drachen tötete. Du bist sogar noch bewundernswerter, weil du eine schwache Frau bist, und deine Stricknadel ist eine viel kühnere Waffe als Davids Schleuder oder Georgs Lanze.«

Aber Pelagia weinte nur umso heftiger.

Alles klärt sich auf

Das alles trug sich zu in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, dem Tag des Johann Wetchopestschernik, und am darauf folgenden Mittwoch, das heißt noch vor Ablauf einer Woche, gab Matwej Benzionowitsch Berditschewski dem Bischof und Schwester Pelagia einen vollständigen und ausführlichen Bericht über die bis dahin durchgeführte Untersuchung.

Die Identität des Straftäters hatte sich weitaus leichter feststellen lassen, als der Staatsanwalt ursprünglich befürchtete. Zuerst wurde das Hotel ausfindig gemacht, in dem er logierte. Das war nicht besonders schwierig, schließlich war Sawolshsk keine sehr große Stadt. Man durchsuchte sein Zimmer und fand einen Pass, der auf den Namen des ehrwürdigen Bürgers Mawriki Irinarchowitsch Pfirsichow ausgestellt war.

Berditschewski jedoch traute diesem Pass nicht, eingedenk der Tatsache, dass der Verbrecher sich auf dem Dampfer als Adliger namens Ostrolyshenski ausgegeben hatte. Deshalb ließ er die Leiche fotografieren. Natürlich nicht auf so hoch wissenschaftliche Art und Weise wie Sergej Sergejewitsch Dolinin – weder kämmte er den Toten, noch träufelte er ihm Nitroglycerin in die Augen (außerdem hatte die Leiche ja auch gar keine Augen, nicht ein einziges).

Die fotografischen Aufnahmen wurden zusammen mit einer genauen Personenbeschreibung an alle Geheimdienst – und Kriminalpolizei-Abteilungen des ganzen Reiches verschickt. Kurz darauf kam die postwendende Antwort von der Kiewer Geheimpolizei. Die brachte allerdings eine Riesenüberraschung.

». . . Er heißt nämlich weder Pfirsichow noch Ostrolyshenski«, leitete Matwej Benzionowitsch mit bedeutungsvoller Miene zum Hauptteil seines Berichtes über (begonnen hatte er mit einer bewegenden und wortgewaltigen Lobrede auf Pelagias beispiellosen Heldenmut). »Es handelt sich vielmehr um einen gewissen Bronislaw Razewitsch, Angehöriger des Erbadels aus dem Gouvernement Kowno, und . . .« Hier legte der Staatsanwalt eine kleine Kunstpause ein, um sodann seine Hauptsensation zu verkünden. ». . . man höre und staune – einen ehemaligen Stabsrittmeister der Gendarmerie! Seine Dienststelle war der Gendarmerieposten des Gouvernements Wolhynien in der Stadt Shitomir. Razewitsch galt, wie in dem Bericht aus Kiew vermerkt ist, als tapferer und tüchtiger Offizier. Er gehörte zuletzt einer Spezialeinheit zur Bekämpfung von besonders gefährlichen Verbrechern an und verlor bei einer Schießerei mit einer Bande von Dynamithändlern ein Auge. Man hat ihn wiederholt ausgezeichnet. Im vergangenen Jahr jedoch wurde er unehrenhaft aus dem Dienst entlassen, wegen Verstoßes gegen den Ehrenkodex der Truppe. Es ist, wie Sie vielleicht wissen, den Offizieren der Gendarmerie verboten, sich Geld zu leihen. Unser Stabsrittmeister jedoch hat sich hoch verschuldet, zudem bei jüdischen Wucherern!« Berditschewski, der ja selber jüdischer Abstammung war, blinzelte ironisch und fügte dann spöttisch hinzu: »Was für seine Vorgesetzten natürlich doppelt unerträglich war! Razewitsch landete also im Schuldenturm. Das heißt, er wurde selbstverständlich zunächst aus dem Dienst entlassen und erst danach ins Gefängnis geworfen, denn ein Offizier des Gendarmeriekorps kann nicht im Gefängnis sitzen. Aber bald darauf gelang es ihm auf irgendeine Art und Weise, seine Schulden zu begleichen und sich aus der Haft freizukaufen. Ein Zurück in den Dienst gab es für ihn allerdings nicht. Kaum wieder in Freiheit, verließ Razewitsch Shitomir mit unbekanntem Ziel. Seine weiteren Aufenthaltsorte und Tätigkeiten sind dem Kiewer Geheimdienst nicht bekannt.«

Der Schock, den er mit seinem Bericht bei seinen Zuhörern ausgelöst hatte, war dem Staatsanwalt der liebste Lohn. Als er eine Stunde zuvor die Depesche gelesen hatte, war er selbst vor Aufregung wie ein aufgescheuchtes Huhn in seinem Kabinett hin und her gelaufen und hatte ununterbrochen gestöhnt: »Ojojoj, das gibt’s doch gar nicht!«

»Aber . . . aber wie ist das denn alles zu erklären?«, rief der Bischof erschüttert. »Wie kann nur ein Gendarm, noch dazu ein Offizier, wenn auch ein ehemaliger . . . Ich bin vollkommen fassungslos!«