Matwej Benzionowitsch, der ja schon ein wenig Zeit gehabt hatte, sich von dem Schrecken zu erholen, hatte bereits eine Antwort parat.
»Ich denke, die Sache verhielt sich folgendermaßen: Razewitsch, der so viele Jahre lang heldenmütig für Recht und Ordnung gekämpft hatte und dann so schnöde verstoßen worden war – und zwar nicht wegen eines Kapitalverbrechens, sondern wegen einer Bagatelle –, war zutiefst verletzt und erbittert. Er hatte seine Schulden nicht rechtzeitig zurückgezahlt, na und?! So was kommt doch alle Tage vor. Und deshalb hat man ihn, einen hochverdienten Offizier, aus dem Korps gejagt? Und wie, verehrte Obrigkeit, sollte er jetzt seinen Lebensunterhalt verdienen?« Berditschewski lächelte schlau und beantwortete seine Frage sogleich selbst. »Nun, was hatte unser Rittmeister gelernt, wo lagen seine beruflichen Fähigkeiten? Belauern, Schnüffeln und – unverblümt gesagt – Gewalt anwenden, sonst nichts. Diese Spezialeinheit, in der Razewitsch diente, ist eine hoch qualifizierte Kampftruppe, ausgebildet im Umgang mit den verschiedensten Waffengattungen und Nahkampftechniken und was sonst noch alles dazugehört zur Bekämpfung von Schwerverbrechern. Die Wahl seines neuen Berufes lag demzufolge nahe. Es kommt sehr häufig vor, dass aus tüchtigen Polizisten die schlimmsten Feinde der Gesellschaft werden. Möglicherweise handelte Razewitsch im Alleingang, möglicherweise auch nicht. Ich erlaube mir bei dieser Gelegenheit auch daran zu erinnern, dass er polnischer Abstammung war. Es ist nicht auszuschließen, dass er mit den Warschauer Ganoven in Verbindung stand, quasi der Creme de la Creme unter den Verbrechern. Diese Gattung von Banditen hat wenig gemein mit dem übrigen Bodensatz der Gesellschaft. Sie haben einen gewissen Schick – wenn Sie meine saloppe Ausdrucksweise entschuldigen wollen. Viele von ihnen gehören sogar dem polnischen Kleinadel an, besitzen Bildung und vornehme Manieren.«
»Aber was hatte er denn gegen unsere Pelagia?«, fragte Mitrofani, der von dieser Theorie des Staatsanwalts noch nicht ganz überzeugt war.
Man sah Berditschewski an, dass er auch über diese Frage bereits nachgedacht hatte.
»Sie hat die Polizei auf seine Spur gebracht. Wie er es geschafft hat, ungesehen von dem Dampfer zu entkommen, weiß ich nicht, vermutlich ist er ganz einfach geschwommen. Und so eine Schwimmeinlage in dem eiskalten Wasser dürfte ihm kaum geschmeckt haben. Vergessen Sie nicht, er trug ja ohnehin schon eine tief sitzende Verbitterung mit sich herum, und außerdem dürfte er psychopathisch veranlagt gewesen sein. Solche Typen gibt es in der Unterwelt ziemlich häufig, wie ich Ihnen versichern kann; unter ihren Häschern übrigens ebenso. Jede Unannehmlichkeit empfinden sie als persönliche Beleidigung und zahlen sie dem vermeintlichen Schuldigen bis auf die letzte Kopeke zurück. Ich kann nur noch einmal wiederholen, was ich schon gesagt habe: Der Mörder wollte mit Schwester Pelagia abrechnen, und er ging dabei außerordentlich erfinderisch vor, ihm eignete eine geradezu sadistische Fantasie. Zudem hatte er es auch gar nicht eilig mit seiner Rache, er wartete geduldig auf einen guten Einfall und eine passende Gelegenheit. Eine solche, wie sie dieser Teufelsstein darstellte. Und als er dann erfuhr, dass die Sache schief gegangen war, beschloss er, kurzen Prozess zu machen und ihr einfach den Schädel einzuschlagen.«
Pelagia stellte eine Frage, die ihr schon die ganze Zeit keine Ruhe ließ:
»Aber woher hatte er denn erfahren, dass die Sache schief gegangen war? Und woher wusste er von dem Stiefelabdruck?«
Der Staatsanwalt machte ein finsteres Gesicht.
»Dieses Rätsel lässt sich sehr einfach lösen, mit Verlaub gesagt. Als ich diesbezüglich die gerichtswissenschaftlichen Expertisen anforderte, hatte ich ja noch keine Ahnung davon, dass der Täter ein ehemaliger Gendarm war. Meine Anfrage muss einem seiner ehemaligen Kameraden in die Hände gefallen sein, zu dem er immer noch freundschaftliche Beziehungen unterhielt; oder auch geschäftliche, wer weiß. Ich habe gehört, dass mehrere Polizeibeamte der kleinrussischen und polnischen Gouvernements Beziehungen zu den ›Warschauern‹ unterhalten, gewissermaßen, wie soll ich sagen, zu beiderseitigem Nutzen. Doch das liegt außerhalb meiner Wirkungssphäre, das ist für Sawolshsker Maßstäbe eine Nummer zu groß. Wir werden uns damit begnügen, dass dieser Bösewicht unschädlich gemacht wurde – dank Ihrer Tapferkeit und Gottes Vorsehung.«
»Amen«, sagte der Bischof salbungsvoll. »Ende gut, alles gut.«
Und damit war man’s zufrieden.
VI
Gefühl und Verstand
Eine schöne Idee
Er brauchte fünf Tage, um die erforderlichen Informationen einzuholen. Einer von diesen Uberfixen hätte es sicher schneller hingekriegt, die Gewohnheiten und Wege des Objektes variierten lobenswerterweise kaum, aber Jakow Michailowitsch war niemand, der Hektik besonders schätzte, und außerdem Schluss jetzt, genug herumgehektikt. Es ist doch wirklich bemerkenswert – kaum hat mal wieder irgendeiner Mist gebaut und einen Haufen Porzellan zerschlagen, schon heißt es gleich: Jakow Michailowitsch, ran an den Speck, ziehen Sie den Karren aus dem Dreck! Räumen Sie die Schweinerei auf, und machen Sie alles wieder hübsch sauber. Die könnten ihm doch wenigstens einmal eine frische Sache geben, wo noch keiner seine Finger dran gehabt hat, damit er nicht ständig nur anderer Leute Mist wegschaufeln muss. Wofür halten die ihn eigentlich, für einen Lokusputzer?
Solcherart vor sich hinbrummelnd saß Jakow Michailowitsch auf der Terrasse des »Cafe de Paris«, welches in der Kleinen Borschtschowka gegenüber dem bischöflichen Garten gelegen war, und schaute über den Rand der »Sawolshsker Eparchial-Nachrichten« auf die sonnendurchflutete Straße. Er war ein Mann in mittleren Jahren und von unauffälligem Äußeren.
Die Kleidung dieses Herrn entsprach seiner Physiognomie – sie war solide und anständig, aber irgendwie blass. Es gab nichts, woran die Augen eines potentiellen Betrachters Halt gefunden hätten: ein grauer, getüpfelter Gehrock, der Hemdkragen nicht allzu weiß, wenn auch keineswegs schmuddelig, und auf dem Tisch vor ihm lag eine schon ein wenig abgetragene Melone. Bemerkenswert an diesem durch und durch bescheidenen Herrn war allenfalls seine unschöne Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit, insbesondere dann, wenn er konzentriert nachdachte, mit den Fingerknöcheln zu knacken.
Auch jetzt gerade wieder umfasste seine rechte Hand mit einer raschen Bewegung die Finger der linken und ließ sie derart laut knacken, dass sich die beiden Fräuleins am Nachbartisch entrüstet zu ihm umwandten. Die eine rümpfte sogar ihr feines Näschen.
»Pardon«, sagte Jakow Michailowitsch und lächelte entschuldigend. »Wird nicht wieder Vorkommen!«
Der Kaffee, der ihm in einer bunten Majolikatasse serviert worden war, ließ dem Geruch und seiner übermäßigen Süße nach eher an Kakao denken, aber Jakow Michailowitsch hatte auf seinen Reisen in die Provinz schon schlechteres Gebräu vorgesetzt bekommen. Gewöhnlich verfuhr er dann folgendermaßen: Er ließ sich ein volles Kännchen Sahne bringen – die ist in der Provinz nämlich viel besser und fetter als in den großen Städten –, füllte seinen Kaffee bis oben hin damit auf, und dann war das Ganze mehr oder weniger bedenkenlos genießbar.
Fünfundzwanzig Minuten nach sieben Uhr zog Jakow Michailowitsch seine billige Silberuhr aus der Tasche und ließ den Deckel aufschnappen; aber anstatt aufs Zifferblatt zu schauen, wandte er den Kopf nach rechts, als warte er auf etwas oder jemanden Bestimmtes. Keine Minute später näherte sich aus der Richtung des Kasaner Tors eine Nonne. Sie trug eine Brille, und unter ihrer Haube leuchtete eine rote Haarsträhne hervor. Der Wartende glättete sein schütteres schwarzes Haar, senkte den Blick aufs Zifferblatt (es zeigte genau halb), nickte beifällig und kritzelte mit Bleistift etwas in sein Notizbuch (ein geheimnisvoller Schnörkel, weder Wort noch Ziffer, dessen Sinn nur ihm allein verständlich war).