Und außerdem gibt es doch nichts Verlockenderes, als nach der Lösung einer Aufgabe zu suchen, die jenseits des Möglichen liegt, oder?
Jakow Michailowitsch glaubte hoch und heilig an das grenzenlose Potential des menschlichen Verstandes; zumindest seines eigenen Verstandes. Er ließ die Fingerknöchel knacken, schmatzte mit seinen dicken Lippen, stöhnte und ächzte, aber schließlich hatte er sie, die Lösung! Eine wunderbare, saubere, eine ganz entzückende Lösung!
Wir brauchen gar kein Publikum! So viele Augen wie möglich? Ganz unnötig! Wie überall kommt es auch hier nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an. Ein einziges Paar Augen werden wir dabei sein lassen, aber dafür eines, das einen ganzen Sack voller Zeugen ersetzt (bei denen man ohnehin nicht weiß, was sie wirklich sehen und was sie nachher beim Verhör dazuerfinden). Wenn die Nonne unmittelbar vor den Augen der Person ihr Lebenslicht aushaucht, die selbst die Ermittlungen leitet, dann kommt gar keiner auf die Idee, irgendwelche Nachforschungen oder Verhöre und so was alles zu veranstalten. Wozu auch? Der Untersuchungsführer war ja selber dabei, soll er seinen eigenen Augen nicht trauen? O doch, er wird ihnen trauen, da bleibt ihm gar nichts anderes übrig.
Tch-jaah, tcha-hihaah . . .
Bezirksstaatsanwalt Berditschewski fährt die Nonne allabendlich in seiner Kalesche von der bischöflichen Residenz bis zu ihrer Wohnung, hält direkt vor ihrem Haus und hilft ihr aus dem Wagen. Dann wartet er jedes Mal so lange, bis sie die Vortreppe hinauf gestiegen ist und die Tür auf schließt.
Was lässt sich damit anfangen?
Natürlich könnte man das Pferd scheu machen. An einer bestimmten Stelle, dort, wo die Kasaner Straße in die Dworjanskaja einmündet, führt der Weg dicht an einem Abhang vorbei.
Das Pferd des Staatsanwaltes ist zwar ein ganz braves, aber wenn man ihm mit dem Blasrohr einen Bolzen mit einer ätzenden Tinktur in den Pelz brennt, geht es ab wie ein Husarenhengst.
Trotzdem sehr riskant.
Erstens könnte sie abspringen, sportlich genug ist sie ja. Schlimmstenfalls käme sie mit irgendwelchen Knochenbrüchen davon, was letztlich niemandem nützt. Oder alle beide brechen sich den Hals. Das hätte grade noch gefehlt.
Von der Kronzeugenidee im Allgemeinen bis zu dem eigentlichen Geistesblitz war es nur ein kleiner Schritt.
Die Idee kam ihm fast sofort, und sie war so gut, dass Jakow Michailowitsch vor Vergnügen quietschte.
Er machte auf dem Absatz kehrt und stieg, nein – flog geradezu, von seiner Inspiration beflügelt, die Vortreppe hinauf. Dort hielt er seine Nase ganz dicht an die Türklinke und ließ seine kleine elektrische Lampe aufleuchten.
Richtig!
Die Grenzen des Möglichen wichen vor dem machtvollen Angriff des menschlichen Verstandes zurück.
Der Staatsanwalt wird alles mit eigenen Augen sehen. Direkt vor seiner krummen Nase wird Jakow Michailowitsch die rothaarige Nonne um die Ecke bringen, und Herr Berditschewski wird nichts merken und schon gar nichts begreifen.
Bitte schön, das ist echter Impressionismus, das ist wahre Schönheit, nicht solche albernen Verschüttungen in irgendwelchen Höhlen!
Am folgenden Tag, gegen zehn Uhr abends, befand sich der Spezialist für saubere Arbeit wieder in derselben ruhigen Straße am Stadtrand, diesmal nicht als Handwerksmeister, sondern als Lumpensammler verkleidet.
Er hatte gegenüber der Schule Posten bezogen, lief immer hin und her und rief mit kläglicher Stimme: »Lumpen, alte Flaschen, Lumpen!« Das tat er allerdings mehr aus professioneller Geste als zu irgendwelchem Nutzen, denn wie wir bereits bemerkten, waren die Straßen zu dieser Tageszeit menschenleer. Weit und breit kein Mensch zu sehen, der Lumpen respektive Flaschen hätte abliefern können.
Nur ein Minütchen hatte sich Jakow Michailowitsch auf der Vortreppe zu schaffen gemacht, mehr war nicht erforderlich gewesen. Der Türgriff war eine höchst simple Konstruktion: ein einfacher Holzbügel, den man auf den Türrahmen genagelt hatte, vor wer weiß wie vielen Jahren: die Nagelköpfe waren schon ganz rostig. Jakow Michailowitsch schlug einen weiteren, sehr dünnen Nagel dazu, und zwar so, dass die Spitze an der anderen Seite ein klein wenig hervorkam, exakt dort, wo die Hand den Türgriff umfasst. Die hervorstehende Nagelspitze pinselte er mit einer Flüssigkeit ein, welche er einem kleinen Fläschchen entnahm, das er mitgebracht hatte. Das tat er mit äußerster Vorsicht, er hatte sogar Handschuhe dazu angezogen.
Unser Spezialist pflegte auf seinen Reisen stets eine ganz besondere Taschenapotheke mit sich zu führen, worin er ein Sortiment von Fläschchen und Instrumenten für jede erdenkliche Lebenslage aufbewahrte.
Wer hat sich noch nicht an einem defekten Türgriff verletzt? Eine Lappalie!
Am anderen Morgen ist da eine kleine Eiterbeule, abends etwas FiebeJaël Symptome wie bei einer Blutvergiftung: Schüttelfrost, Schweißausbrüche, die Haut wird ganz gelb. Am zweiten Tag dann schon starkes Fieber, Delirium. Und am selben Abend – wenn man ein starkes Herz hat, dann spätestens gegen Ende der Nacht – bist du schon bei deinem Schutzheiligen. Niemand wird Verdacht schöpfen, so etwas passiert schließlich jeden Tag. Und was die Hauptsache ist: Der Staatsanwalt wird alles mit ansehen. Mit seinen höchst eigenen staatsanwaltlichen Ohren wird er hören, wie sie aufschreit, wenn sie sich an dem Nagel sticht. Wer rechnet denn auch damit, dass man sich von so einer Kleinigkeit eine Blutvergiftung zuzieht? Niemand. Das ist göttliche Vorsehung.
Jakow Michailowitsch bezog Position hinter den Büschen und begann zu warten.
Zwanzig vor elf, gerade wollte er schon nervös werden, da kamen sie endlich.
Heute setzte der Staatsanwalt seinen Fahrgast nicht nur ab, sondern begleitete die Schwester auch noch galant bis zur Tür.
Das war ja sogar noch besser, da konnte er alles ganz aus der Nähe bewundern, aus der ersten Reihe, sozusagen.
Die Rothaarige fasste nach dem Türgriff, zog daran und schrie auf.
Was zu beweisen war.
Als er das leise »Oh« vernommen hatte, tat Jakow Michailowitsch einen zufriedenen Schmatzer – und entfernte sich. Fünf Sekunden später hatte er sich schon vollständig in der Dunkelheit aufgelöst.
Die Sache war erledigt. Alles Weitere besorgt die Natur, wie man sagt.
Der verliebte Staatsanwalt
Dem Staatsrat Matwej Benzionowitsch Berditschewski, einem klugen und achtbaren Mann von neununddreißig Jahren, war ein Unglück widerfahren – und zwar genau das, vor dem er sich gefürchtet hatte, seitdem er verheiratet war – glücklich verheiratet zudem und mit reichem Nachwuchs gesegnet.
Matwej Benzionowitschs Liebe zu seiner Gattin hatte in den langen Jahren ihrer Ehe verschiedene Phasen durchlaufen und war mittlerweile in dem sicheren Flussbett freundschaftlich-wohlwollender Gewohnheit und vollkommener Seelenverwandtschaft angelangt, wo zärtliche Worte und Schöntuerei nicht mehr erforderlich sind. Maria Gawrilowna, im Alter von achtzehn Jahren noch mit einem leidenschaftlichen und romantischen Gemüt ausgestattet, hatte nach der Geburt ihrer dreizehn Kinder diese ihre ursprünglichen Charaktereigenschaften restlos abgelegt und durch pragmatischere Leidenschaften und Sorgen ersetzt; wie man zum Beispiel die Familie mit dem Gehalt des Mannes durchbringt, das zwar recht anständig war, aber man bedenke – fünfzehn Seelen!
An der Schwelle zu ihrem dreißigsten Lebensjahr war Frau Berditschewskaja eine vollblütige, gesetzte Dame mit einem kompakten und stabilen Charakter, die ganz genau wusste, worauf es im Leben ankommt und was Unfug ist und folglich ignoriert werden kann.
Matwej Benzionowitsch schätzte diese Qualitäten seiner Frau sehr, tief in seinem Inneren jedoch entzückte ihn am meisten ihre für einen Mann unvorstellbare Bereitschaft zur Aufopferung für alle, die sie liebte – eine bedingungslose, selbstverständliche Liebe, die frei von jeder Affektiertheit war.