Pfannkuchen machte sich ganz schmal und wollte gerade durch das Fenster kriechen – den Kopf hatte er schon fast drinnen –, als plötzlich ganz dicht neben ihm irgendetwas quietschte, und dann sagte eine Frauenstimme laut und zornig:
»Hören Sie auf damit!«
Pfannkuchen sank das Herz in die Hose: Verdammt, erwischt!
Er zog den Kopf zurück, drehte sich um – und seufzte erleichtert.
In der Nachbarkabine war ein Fenster geöffnet worden. Wahrscheinlich war es denen da drinnen zu stickig geworden.
Dieselbe Stimme setzte ärgerlich fort:
»Jawohl, schnappen Sie ruhig etwas frische Luft, Eminenz! Gott weiß, was Sie sich da wieder ausgedacht haben! Lassen Sie mir wenigstens meine Sünden!«
»Das ist meine Sünde, ganz allein meine!«, antwortete ein tiefer Bass, der ebenfalls sehr ärgerlich klang. »Ich habe es zugelassen, ich habe dir Gehorsam auferlegt, also werde ich auch dafür einstehen! Aber nicht vor dem Petersburger Staatsanwalt, sondern vor Gott dem Herrn!«
Ei verflixt, das passt mir überhaupt nicht. Die wecken mir noch den Propheten auf, diese Schreihälse.
Pfannkuchen kroch zu dem geöffneten Fenster und linste hinein, ganz vorsichtig, nur mit einem Auge.
Zuerst sah er zwei Personen, einen grauhaarigen geistlichen Würdenträger, der ein reich verziertes Kreuz auf der Brust trug, und eine Nonne. Aber dann bemerkte er noch eine dritte Person, offenbar ebenfalls ein Geistlicher, der ganz still in einer Ecke saß und keinen Mucks von sich gab.
Was macht ihr bloß für ein Geschrei, ihr Gottesleute? Das gehört sich doch nicht für Christenmenschen, wo ist denn da die Demut? Ihr weckt ja alle Passagiere auf.
Als hätte sie Pfannkuchens Flehen gehört, seufzte die Nonne und blickte zu Boden.
»Eminenz, ich schwöre es: Ich werde mich nie mehr in Versuchung führen lassen, und ich werde auch Sie nicht mehr in Versuchung führen. Aber bitte hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen.«
Der Geistliche zog die Augenbrauen hoch (die eine halb ergraut, die andere noch fast schwarz) und strich der Ordensfrau mit der Hand über den Kopf.
»Schon gut, Pelagia, Gott ist gnädig. Vielleicht können wir die Sache noch einmal einrenken. Und für unsere Sünden tun wir gemeinsam Buße.«
Ein eindrucksvolles Paar. Pfannkuchen hatte ihnen auch schon Spitznamen gegeben: Schwester Fuchs (wegen der roten Haarsträhne, die da unter ihrer Haube hervorlugte) und Ataman Kudejar (dieser Pope sah für einen gütigen Seelenhirten einfach viel zu kriegerisch aus), wie in dem Lied:
Floh Kudejar die Seinen
und ließ das Rauben sein,
dient‘ Gott anstatt den Heiden
und trat ins Kloster ein.
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Pfannkuchen sicher mit großem Interesse gehört, welche Art Sünden zwischen dem Bischof und der Nonne vorgefallen waren, aber jetzt hatte er anderes im Kopf. Sie haben sich vertragen und aufgehört zu schreien, ich danke Dir, Herrgott.
Er kroch wieder zum Fenster des Propheten.
Griff nach dem Fensterrahmen und zog sich daran hoch.
Er schnarcht, der Gute, so ist’s brav.
Im letzten Moment hörte Pfannkuchen das Rascheln hinter sich, doch da war schon nichts mehr zu machen. Er wollte sich noch umdrehen, aber zu spät.
Irgendetwas krachte und zerbarst direkt in Pfannkuchens Kopf, und dann gab es für ihn keinen Frühlingsabend mehr und auch nicht den Nebel über dem Fluss – es gab gar nichts mehr.
Zwei kräftige Hände packten den erschlafften Körper an den Füßen und schleiften ihn über das Deck zur Reling – rasch, damit es keine Blutspuren gab. Der Beutesack verfing sich an einem Tischbein – ein Ruck – die Schnur zerriss, und die Bewegung setzte sich fort.
Dann flog Pfannkuchen durch die Luft, schickte zum Abschied eine dicke Wasserfontäne in Gottes Welt und vereinigte sich mit dem mütterlichen Fluss.
Sie schloss den verlorenen Sohn in ihre zärtlichen Arme, schaukelte ihn ein wenig, wiegte ihn sanft in den Schlaf und legte ihn dann ganz, ganz tief in das hinterste, dunkelste Schlafzimmer auf ein weiches Bett aus Schlamm.
Hauptstädtische Kalamitäten
»Es ist trotzdem höchst verwunderlich, wie Konstantin Petrowitsch davon erfahren hat«, sagte Bischof Mitrofani zum wer weiß wievielten Male und warf einen zerstreuten Blick in Richtung des dumpfen Lärms, der draußen zu hören war – es klang, als hätte jemand einen Ballen Stoff oder ein Stück Leinwand aufs Deck fallen lassen. »Aber man sagt ja: Wer hoch sitzt, sieht weit – wie wahr das doch ist.«
»Das gehört nun mal zu den Amtspflichten Seiner Hochwürdigen Exzellenz«, warf Vater Serafim Usserdow von seiner Ecke aus ein.
Das Gespräch zwischen dem Bischof, seiner geistlichen Tochter Pelagia und dem bischöflichen Sekretär währte jetzt schon drei Tage. Begonnen hatte es in Petersburg, nach einer unangenehmen Unterredung mit dem Oberprokuror des Heiligen Synods, Konstantin Petrowitsch Pobedin. Während der ganzen Dauer der Reise – im Zug nach Moskau, im Hotel und jetzt auf dem Dampfer, der den Bischof des Gouvernements und seine Begleiter in ihre Heimatstadt Sawolshsk zurückbringen sollte – hatten sie über nichts anderes gesprochen.
Der Konflikt zwischen dem Bischof und dem Oberprokuror war schon sehr alt, aber bisher war es noch nie zu einer direkten Konfrontation gekommen. Konstantin Petrowitsch hatte Mitrofani sozusagen ins Visier genommen und maß sich an seinem ehrwürdigen Opponenten, dessen Stärke und Überzeugung er respektierte, da er selbst ein Mann der Stärke war und ebenfalls für seine Überzeugung einstand.
Jedoch war nicht zu übersehen, dass früher oder später diese beiden Überzeugungen einander in die Quere geraten würden, da sie einfach zu verschieden waren.
Mitrofani war auf das Schlimmste gefasst gewesen, als er in die Hauptstadt vor den gestrengen Oberprokuror beordert worden war, auf jede nur denkbare Schikane, aber von der Seite, von der der Schlag dann käm, hatte er ihn nicht erwartet.
Konstantin Petrowitsch eröffnete das Gespräch auf seine übliche Art, ganz leise, gewissermaßen wie auf Samtpfötchen. Er sprach dem Sawolshsker ein Lob für sein gutes Verhältnis zur weltlichen Macht aus und insbesondere für die Tatsache, dass auch der Gouverneur den Rat des Bischofs suchte und bei ihm die Beichte ablegte. »Ein Beispiel für die Untrennbarkeit von Staat und Kirche, welche das einzig tragfähige Fundament ist, auf dem das Gebäude des gesellschaftlichen Lebens stehen kann«, hatte Pobedin gesagt und seinen Zeigefinger erhoben, um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen.
Dann folgte eine milde Rüge ob der Nachgiebigkeit und mangelnden Durchsetzungskraft gegenüber den Angehörigen anderer slawischer Völker und den Andersgläubigen, deren es in Sawolshsk jede Menge gab: die protestantischen Siedler, die vormals verbannten polnischen Katholiken, dann Muselmanen und schließlich sogar Heiden.
Seine Exzellenz hatte eine ganz besondere Manier zu reden, so als läse er einen Vortrag vom Blatt ab. Er sprach glatt und fließend, aber irgendwie spröde und sehr ermüdend für seine Zuhörer. »In der Staatskirche sehen wir ein System vor uns, bei dem die weltliche Macht nur eine einzige Konfession als die wahre anerkennt und demzufolge auch nur diese eine Kirche schützt und protegiert, was unvermeidlich eine, unter Umständen recht erhebliche, Schmälerung von Ansehen, Recht und Privilegien anderer Kirchen nach sich zieht«, dozierte Konstantin Petrowitsch. »Anders jedoch verlöre der Staat seine geistliche Einheit mit dem Volk, dessen überwiegende Mehrheit dem orthodoxen Glauben angehört. Ein Staat ohne rechten Glauben ist nichts anderes als eine Utopie, ein Hirngespinst, denn der Unglaube ist eine direkte Negation des Staates. Wie denn sollen die orthodoxen Massen der staatlichen Macht Vertrauen entgegenbringen, wenn Volk und Macht unterschiedlichen Glauben haben oder wenn die Macht überhaupt keinen Glauben besitzt?«