Kaum war der Blonde im Nebenzimmer verschwunden, sprang der Staatsrat von seinem Sessel auf und schlich auf Zehenspitzen zu der Tür. Behutsam legte er das Ohr an das Holz und lauschte.
Er erkannte Keschas hurtigen Tenor, verstand aber nicht, was er sagte.
Eine zweite Stimme, die unnatürlich gepresst klang, als hätte sie jemand mit einer Luftpumpe aufgeblasen, fragte:
»Tatsächlich?«
Wieder eine undeutliche Sprechsalve.
»Wie bitte, wer? Berg-Ditschewski?«
Und Keschas Antwort: tirim-tirim-tirim.
»Na gut, schauen wir ihn uns mal an.«
Mit drei lautlosen Sätzen war Matwej Benzionowitsch wieder bei seinem Sessel, ließ sich hineinfallen und schlug lässig ein Bein über das andere.
Und erstarrte – in der Tür, die zur Treppe führte, stand Filip. Die kräftigen, bis zum Ellenbogen nackten Arme über der Brust verschränkt, sah er den Gast mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck an.
Verdammt! Nicht nur, dass er nichts Brauchbares gehört hatte, jetzt hatte er sich auch noch vor diesem Lakaien bloßgestellt!
Der Staatsanwalt spürte, wie sein Gesicht rot anlief, aber er hatte keine Zeit mehr zu reagieren.
Die Tür des Salons ging auf, und der Hausherr erschien.
Berditschewski erblickte einen eleganten Herrn mit sehr heller Haut und sehr schwarzen Haaren. Der nach oben gezwirbelte Schnurrbart sah von weitem aus wie ein dicker Kohlestrich, der das Gesicht in zwei Hälften teilte. Tja, wenn da mal nicht die infernalische Sissi im Spiel war, dachte der in moderner Haarfärbetechnik inzwischen erfahrene Staatsrat.
Tscharnokuzki trug einen schwarzen, mit einem silbernen Drachen bestickten Kimono und dazu ein chinesisches Seidenmützchen mit Quaste. Darunter leuchtete ein weißes Hemd mit Spitzenkragen hervor. Das unbewegte Gesicht des Magnaten wirkte alterslos, keine einzige Falte war darin zu sehen. Lediglich das verblichene Blau der Augen deutete darauf hin, dass ihr Besitzer dem Abend des Lebens näher war als seinem Morgen. Allerdings war der Blick Seiner Erlaucht keineswegs abgeklärt, sondern scharf und forschend, wie bei einem wissbegierigen Jüngling. Ein gealtertes Kind, dachte Matwej Benzionowitsch im Stillen.
»Willkommen in meinem Haus, Herr Berg-Ditschewski«, sagte der Graf mit jener Gummistimme, die dem Staatsanwalt schon bekannt war. »Entschuldigen Sie bitte meinen unpassenden Aufzug, ich habe so spät keine Gäste mehr erwartet. Ich bekomme sehr selten unangekündigten Besuch. Aber ich weiß, dass mir Innocent nicht einen x-beliebigen Menschen mitbringen würde.«
Matwej Benzionowitsch brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Kescha gemeint war, dass der Graf Innokentis Namen einfach französisch aussprach – Innocent, der Unschuldige.
Tscharnokuzkis Nasenflügel bebten ganz leicht, als unterdrücke er ein Gähnen. Jetzt war auch klar, warum seine Stimme so unnatürlich klang: Der Graf bewegte beim Sprechen die Lippen fast gar nicht und unterdrückte jede Mimik – vermutlich, um Falten zu vermeiden. Das Beben der Nasenflügel ersetzte ihm zweifellos das Lächeln.
Auf die Frage, ob er ein Verwandter des Feldmarschalls Berg sei, antwortete der Staatsrat ausweichend: nur ein sehr entfernter.
»Natürlich, einem Polen gegenüber sollte man das eigentlich lieber nicht erwähnen . . . [Nüsternbeben.] Aber als überzeugter Kosmopolit bin ich in der Hinsicht ganz leidenschaftslos.«
Diese Bemerkung rief Matwej Benzionowitsch zum einen in Erinnerung, wer dieser Feldmarschall von Berg war – nämlich ein Widersacher Polens zur Zeit von Nikolai Pawlowitsch und Alexander dem Zweiten –, zum anderen erkannte er, dass der Hausherr den zurückhaltenden Ton seiner Antwort missverstanden hatte – Gott sei Dank.
»Was ist denn, Filip?«, fragte der Graf an den Diener gewandt, der sich ihm mit einer Verbeugung näherte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Jetzt verpetzt er mich, dieser Miesling.
Tscharnokuzkis Brauen hoben sich vorsichtig, und in seinen Augen, die auf den Staatsanwalt gerichtet waren, glomm ein amüsierter Funken auf.
»Also, ein Adelsmarschall sind Sie? Aus dem Gouvernement Sawolshsk?«
»Was ist daran so witzig?« Matwej Benzionowitsch runzelte die Stirn – Angriff ist die beste Verteidigung. »Sie meinen wohl, in so einem Provinznest gäbe es keinen Adel?«
Der Graf flüsterte Filip noch ein paar Worte zu und gab ihm einen zärtlichen Klaps auf den Schenkel, woraufhin der gemeine Lakai sich endlich entfernte.
»Nein, nein, ich habe mich über etwas anderes erheitert.« Der Hausherr sah seinen Gast offen, geradezu ungeniert an. »Ich finde es amüsant, dass Bronek Razewitschs Liebling ein Adliger ist. Dieser Schelm weiß wirklich, wie man sich durchschlawinert. Erzählen Sie mir doch, wie Sie ihn kennen gelernt haben.«
Auf diese Frage hatte Berditschewski sich unterwegs schon eine Antwort zurechtgelegt.
»Sie kennen doch Bronek«, sagte er und lächelte gutmütig. »Er ist ein rechter Lausebengel, und da ist er bei uns in eine ziemlich dumme Geschichte hineingeraten. Er wollte einer Nonne einen kleinen Schreck einjagen, nur so zum Spaß, aber er hat es ein wenig zu weit getrieben. Kurz, die Sache kam vor Gericht. Als Zugereister, der in der Stadt keinen Menschen kannte, wandte er sich an den Adelsmarschall mit der Bitte, ihm bei der Suche nach einem Anwalt behilflich zu sein . . . Selbstverständlich habe ich ihm geholfen – unter Adligen . . .«
Matwej Benzionowitsch schwieg beredt – den weiteren Gang der Ereignisse können Sie sich selber vorstellen.
Auf dem Gesicht des Grafen erschien wieder das Lächeln, das wie Gähnen aussah.
»Ja, an der Geistlichkeit hatte er schon immer einen Narren gefressen. Weißt du noch, Kescha, diese Nonne, die sich einmal hierher zum Schloss verirrte, um Almosen zu sammeln? Weißt du noch, wie Bronek sie, hm . . . ?«
Zu dem Beben der Nüstern gesellte sich eine Art erstickter Schluchzer – offenbar hatte es den Grafen zu einem unbeherrschten Lachanfall hingerissen.
Auch Kescha grinste, aber das Grinsen geriet ein wenig schief, fast erschrocken. Der Staatsrat spannte sich innerlich an, als er von der Nonne hörte. Die Spur war heiß!
»Aber warum stehen wir eigentlich hier herum, bitte, treten Sie doch ein. Ich zeige Ihnen meine Sammlung. Sie ist, wie ich sagen darf, in gewisser Weise einzigartig.«
Tscharnokuzki machte eine einladende Geste, und man begab sich ins angrenzende Zimmer.
Die Wände des Salons waren mit rotem Samt bespannt, und der ganze Raum enthielt eine Überfülle schwerer Draperien in allen Nuancen zwischen hellem Himbeerrot und dunklem Purpur, die dem Zimmer etwas Befremdliches, fast Bedrohliches gaben. Das elektrische Licht verstärkte die Wirkung dieser blutroten Farbmodulationen noch und erzeugte – je nach Standpunkt – im Betrachter das Gefühl, sich mitten in einem lodernden Feuer oder im Angesicht der untergehenden Sonne zu befinden.
Das Erste, woran Berditschewskis Blick in diesem bemerkenswerten Salon Halt fand, war ein ägyptischer Sarkophag, in dem eine hervorragend erhaltene Frauenmumie lag.
»Zwanzigste Dynastie, eine Tochter von Ramses IV. Ich habe sie in Alexandria für dreitausend Pfund Sterling von einem Grabräuber gekauft. Ist sie nicht wie lebendig? Schauen Sie nur!«
Der Graf hob das Linnen an, und Matwej Benzionowitsch sah einen schmalen, vollkommen nackten Körper.
»Sehen Sie, hier ist noch die Spur des Balsamiermessers zu erkennen.« Der schlanke Finger mit dem polierten Nagel fuhr einen feine Kerbe entlang, die sich über den gelben faltigen Bauch hinzog, und als er am Venushügel ankam, zuckte er angewidert zurück.
Der Staatsrat wandte den Blick ab und hätte beinahe laut aufgeschrien. Aus einem Glasschrank heraus schaute ihn ein schwarzes Mädchen mit samtig glänzenden Augen an – als wäre sie lebendig.
»Was ist das?«
»Die ist ausgestopft. Ich habe sie aus dem Senegal mitgebracht, wegen der Tätowierungen. Sie sind ein wahres Kunstwerk!«