»Wer hat euch gefahren, Innocent?«, fragte Tscharnokuzki.
»Semjon. Sie glauben doch nicht, ich hätte einen fremden Kutscher genommen?«
Der Graf zerdrückte die Zigarre im Aschenbecher und erklärte Matwej Benzionowitsch fröhlich, wobei er, wenn auch in offensichtlich spottender Absicht, wieder zum »Sie« überging:
»Die Männer hier bei uns in Wolhynien, deren Wortschatz sich aus einem Dutzend Sprachen mischt, haben so eine Redensart: ›Hetz den Wolf in die Ecke, dass er drin verrecke.‹ Lassen Sie Ihre krumme Nase nicht hängen, Herr Berditschewski, wir haben noch eine lange Nacht vor uns, und ich verspreche Ihnen, dass viele interessante Dinge auf Sie warten. Wir werden uns jetzt in den Keller begeben, dort zeige ich Ihnen den geheimen Teil meiner Sammlung, den bei weitem interessanteren Teil. Dort befinden sich die Exponate, die ich nicht erworben, sondern selbst angefertigt habe. Leider ist es mir nicht möglich, Sie meiner Sammlung einzuverleiben, Sie haben ja gesehen, ich sammle nur Frauen. Obwohl, mal schauen, vielleicht ein klitzekleines Stück, als Ausnahme.«
Ein hochnotpeinliches Verhör
Der Graf sah das erschrockene Gesicht seines Gefangenen und bekam einen seiner keckernden, mumienartigen Lachanfälle.
»Nein, nicht das Stück, an das Sie denken. Das wäre ja eine Lästerung des männlichen Körpers. Innocent, mein Lieber, wie würde dir das Exponat ›jüdisches Herz‹ gefallen? In Spiritus eingelegt, he?«
Kescha antwortete nicht und zerrte nur krampfhaft an seiner Krawatte.
Tscharnokuzki nahm einen Pfirsich aus der Schale, die auf dem Tisch stand, und streichelte liebevoll seine samtige Rundung.
»Nein!«, rief er, immer noch kichernd. »Ich habe eine bessere Idee! Ein Pfund jüdisches Fleisch!« Und in bestem Eaton-Englisch deklamierte er: »›Equal pound of your fair flesh, to be cut off and taken in what part of your body pleaseth me.‹ Im Gegensatz zu Shylock überlassen ich Ihnen sogar die Wahl! Was meinen Sie, wo wollen wir es herausschneiden?«
Matwej Benzionowitsch konnte sich nicht so schön auf Englisch ausdrücken, deshalb antwortete er auf Russisch:
»Ich will keine Almosen. Machen Sie es so, wie es in Ihrem semitophoben Stück steht: ›möglichst nah am Herzen‹.«
Er knöpfte sein Jackett auf und schlug sich auf die linke Seite, wo in der Westentasche das »Werbegeschenk der Firma« steckte, der spielzeugartige Einschüsser, dessen Lauf kaum dicker als ein Strohhalm war. Nun, ein Ertrinkender greift bekanntlich nach jedem Strohhalm.
So tat es auch der Staatsanwalt – er griff nach dem Pistölchen, jedoch in solcher Hektik, dass er sich am Schlagbolzen den Daumennagel einriss.
»Was ist das denn? Eine Klistierspritze?«, fragte der Graf unbeeindruckt. »Ein bisschen klein dafür.«
In diesem Augenblick ging mit Berditschewski eine wundersame Verwandlung vor sich. Alle Angst fiel mit einem Schlag von ihm ab, und eine nie erlebte Wut packte ihn. Das hatte einen ganz bestimmten Grund.
Wir sprachen an anderer Stelle bereits darüber, welche bemerkenswerte Veränderung im Charakter dieses äußerst friedfertigen, ja sogar ein wenig ängstlichen Mannes im Zusammenhang mit jener so plötzlich über ihn gekommenen Verliebtheit vor sich gegangen war. In diesem Augenblick allerdings war der Funke, der die Explosion auslöste, um einiges weniger romantisch. Es war nämlich so, dass Matwej Benzionowitsch ein ausgesprochen heikles Verhältnis zu seinen Fingernägeln hatte. Ein winzig kleiner Niednagel, oder, Gott bewahre, gar ein Riss in einem seiner Fingernägel, konnte ihn völlig aus der Fassung bringen, und das berüchtigte »mit dem Nagel über die Schiefertafel krietschen« ging ihm durch Mark und Bein. Jene unvermeidliche hygienische Prozedur, die jeder zivilisierte Mensch etwa einmal in der Woche an seinen Nägeln vorzunehmen genötigt ist, war für Berditschewski eine Qual, insbesondere in ihrer abschließenden Phase, die die Verwendung einer Nagelfeile implizierte. Und jetzt war ihm der Nagel eingerissen, und eine Ecke ragte auf widerwärtigste Weise hervor! Diese an sich nichtige Unannehmlichkeit, eine Lappalie verglichen mit der Situation im Ganzen, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Von jähem Zorn wurde dem Staatsrat schwarz vor Augen, an Stelle der Angst trat nackte Wut.
»Das ist eine Westentaschenpistole!«, brüllte Matwej Benzionowitsch mit blutunterlaufenen Augen. »Ein unentbehrlicher Gegenstand, um nächtlichem Raubgesindel Einhalt zu gebieten!«
Der Graf verzog angewidert das Gesicht.
»Filip, nimm ihm dieses scheußliche Ding weg.«
Jetzt wäre es eigentlich angebracht gewesen, dem fiesen Adligen eine Kugel zu verpassen, um ihm die außerordentlichen Qualitäten der geschmähten Waffe zu demonstrieren, aber der Staatsanwalt erinnerte sich an die Warnung des Verkäufers, dass die Durchschlagskraft der Patrone bei einem Abstand von mehr als zwei Klaftern deutlich nachlasse und bei fünf Klaftern bereits vollkommen wirkungslos sei.
Die Entfernung zu dem Grafen betrug zwar keine fünf Klafter, aber leider deutlich mehr als zwei.
Deshalb drehte sich Berditschewski abrupt zur Seite und richtete die Mündung auf Filip, der wie ein Büffel auf ihn zugetrampelt kam. Ohne Zeit mit albernen Warnrufen zu vergeuden (»Halt! Ich schieße!« usw., usw.), spannte er einfach den Hahn und ließ ihn gleich wieder los.
Der Knall war nicht sehr laut, leiser als, sagen wir, der Knall eines Sektkorkens. Ein kaum spürbarer Rückstoß. Der Rauch, der aus dem winzigen Lauf herauspuffte, ähnelte einem kleinen Wattebäuschlein, gerade groß genug für ein Nasenloch.
Jedoch, so kurios es scheinen mag, der riesige Kerl knickte in der Mitte zusammen und hielt sich mit beiden Händen den Bauch.
»Eure Erlau . . .«, ächzte Filip. »Er hat mir in den Bauch . . . O weh! Ich halt’s nicht aus!«
Für einen Moment verwandelte sich die Szenerie im Esszimmer in eine Art Pantomime oder Pas de quatre. Auf dem Gesicht des Grafen spiegelte sich grenzenlose Verwunderung – deren Konsequenz die Entstehung von wenigstens zwei bis drei Falten war –, und seine Arme bewegten sich wie in Zeitlupe in die Höhe. Kescha war auf dem Fußboden in der Pose des sterbenden beziehungsweise fast schon toten Schwanes erstarrt, der verletzte Diener pendelte in tief gebückter Haltung auf den Absätzen vor und zurück, als vollführte er seltsam groteske Kotaus, und Berditschewski selbst, der tief in seinem Herzen einigen Zweifel an der Wirksamkeit seiner Waffe gehegt hatte, wurde steif wie ein Besenstiel.
Der Staatsrat kam als Erster zu sich. Er warf die nutzlose Pistole fort, raffte seinen »Lefoche« vom Boden auf und tastete hektisch nach dem Abzug. Ach ja, das Ding war ja zum Sichern!
Er legte die Sicherung um und nahm die Pistole in die linke Hand. Den rechten Daumen steckte er in den Mund, um den eingerissenen Nagel mit der Zunge zu befühlen.
Auch wenn sein »Lefoche« nur »billiger Plunder« war, wie der Graf sich ausdrückte, aber sechs Kugeln waren mehr als eine, und man konnte damit auch auf größere Entfernung schießen.
»Tut das weh!«, heulte Filip ohrenbetäubend. »Er hat mir in den Bauch geschossen! Oh, Mami, das brennt! Ich sterbe!«
Er fiel auf den Rücken und streckte die Beine in die Luft.
»Schnauze!«, brüllte Berditschewski. Seine Stimme klang schrill und verzerrt, sein Gesicht war weiß vor blinder Wut. »Halt den Mund, oder ich schieße noch mal!«
Der Lulatsch verstummte augenblicklich und gab kein Geräusch mehr von sich, biss sich nur stumm auf die Lippen und wischte sich die Tränen ab, die in dem bärtigen Gesicht seltsam deplatziert wirkten.
»Und du, Miftkerl«, herrschte der Staatsanwalt, wieder an seinem Fingernagel saugend, Kescha an, »marf unter den Tif, und wehe, du fteckft auch nur deine Nafenfpitfe rauf!«
Der junge Mann dislozierte sich unverzüglich in die befohlene Position, blieb aber, unter dem Gesichtspunkt des Erhalts seiner körperlichen Unversehrtheit, immer noch auf allen vieren.