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Er rüttelte an der Tür – vergebens.

Mit drei Schritten war er beim Tisch und zerrte Kescha darunter hervor.

»Was ist hinter dieser Tür?«

»Das Kabinett.«

»Kann man von dort aus die Dienerschaft rufen?«

»Ja, es gibt eine elektrische Klingel und ein Haustelefon.«

Da hörte Berditschewski schon hinter der Tür ein durchdringendes Schrillen und die hysterische Stimme des Magnaten. Er schrie entweder in eine Sprechmuschel oder einfach aus dem Fenster.

»Wie viele Diener gibt es im Schloss?«

»Vielleicht zehn . . . Nein, mehr.«

Und ich habe nur sechs Kugeln, dachte Matwej Benzionowitsch, aber durchaus nicht in Panik, sondern ganz ruhig und sachlich.

Er lief zum Fenster und schaute in den dunklen Innenhof. Mehrere Schatten liefen von verschiedenen Seiten herbei. Er rannte zur anderen Seite – dort lag schwarz der Wald, und unter dem Fenster glitzerte das Wasser.

Er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.

Ja, das war der Burggraben. Hm, ziemlich hoch. Aber er hatte keine andere Wahl.

Er war schon halb auf dem Fensterbrett, als ihm noch etwas einfiel. Rasch sprang er zurück ins Zimmer.

Zuerst lief er zur Tür und drehte den Schlüssel um. Dann packte er Kescha am Revers.

»Los, Jungchen, geben Sie mir mein Geld wieder. Ihre Theorie war falsch.«

Der Blonde gab dem Staatsanwalt mit zitternder Hand seine ganze Geldbörse, und Matwej Benzionowitsch nahm seinen Hunderter heraus.

Draußen hörte man das Getrappel von Schritten, und dann begann die Tür zu beben – offenbar rammte jemand mit der Schulter dagegen.

Berditschewski warf einen letzten Blick in das Zimmer, schnappte sich die halb leere Flasche vom Tisch und stieg wieder auf das Fensterbrett.

Inzwischen wurde die Tür offenbar mit einem schweren Gegenstand bearbeitet, die Goldverzierungen platzten von den Türfüllungen ab.

Mit einem raschen Schritt – damit gar nicht erst Angst aufkommen konnte – trat der Staatsanwalt ins Leere.

»Iih-hh!!!« – Ein wilder Schrei löste sich aus seiner Kehle, aber im nächsten Augenblick musste er den Mund schon wieder zuklappen, weil er in dem muffigen, tintenschwarzen Wasser untertauchte. Er traf sofort auf Grund, stieß sich kräftig mit beiden Beinen von dem weichen Boden ab und schoss an die Oberfläche; er spuckte ein wenig schleimigen Tang, während er sich orientierte, und begann dann zum Ufer zu springen. Schwimmen konnte er nämlich nicht, weil er in der einen Hand seinen »Lefoche«, in der anderen die Flasche hielt. Also machte er es wie ein Grashüpfer, bloß im Wasser: untertauchen, mit den Beinen abstoßen, auftauchen, Luft holen, untertauchen usw. Das Wasser war Gott sei Dank nicht sehr tief, sodass seine Hände immer an der Oberfläche blieben.

Nach fünf, sechs Hüpfern hatte er auf diese Art flacheres Wasser erreicht. Er stieß mit den Fingerknöcheln gegen etwas Glitschiges, Rundes, Weiches – und schrie laut auf, weil ihm gleich die Geschichte von der Wasserschlange einfiel. Aber weder Flasche noch Revolver ließ er fallen.

Gott sei Dank war es dann keine Schlange, sondern nur die alten, morschen Baumstämme, mit denen die Seitenwände des Burggrabens verkleidet waren.

Irgendwie gelang es ihm, aus dem Wasser herauszukommen, und so schnell es ging, schleppte er sich zu den nächststehenden Büschen. Und erst hier, halbwegs in Sicherheit, erlaubte sich Berditschewski einen Blick zurück zum Schloss.

Aus dem erleuchteten Fenster (es war gar nicht so hoch, wie es ihm von oben vorgekommen war) ragten zwei Köpfe heraus. Grade zwängte sich ein dritter dazwischen.

»Hinterher!«, erschallte die Stimme des Grafen. »Tausend Rubel für den, der ihn fängt!«

Der Staatsanwalt fühlte sich absolut nicht in der Lage, jetzt ein Wettrennen durch den nächtlichen Wald zu veranstalten; der Sprung aus dem Fenster samt anschließendem Hüpfbad in dem kalten Wasser hatten jeglichen Hang zu körperlicher Ertüchtigung in ihm zum Erliegen gebracht. Am besten, dachte er, würde er der übereifrigen Dienerschaft ein wenig das Mütchen kühlen, um sie daran zu erinnern, dass ihr Leben ihnen mehr wert war als tausend Silberrubel.

Matwej Benzionowitsch schüttelte das Wasser aus dem Revolverlauf und schoss dann zweimal in die Wand.

Augenblicklich verschwanden die Köpfe aus dem erleuchteten Viereck.

Jemand brüllte: »Macht das Licht aus! Er sieht uns! Der Lump schießt!«

Die Lichter gingen aus – zuerst im Salon, dann im ganzen ersten Stock.

So ist ’s fein.

Schmutzig und nass bahnte sich Berditschewski seinen Weg durchs Gestrüpp und erreichte schließlich den gepflasterten Weg. Dort nahm er erst mal einen kräftigen Schluck aus der Flasche und trabte dann im Laufschritt weiter, um sich aufzuwärmen.

So bergab lief es sich leicht und angenehm – fünfzig Schritte laufen, dann einen kleinen Schluck, wieder fünfzig Schritte laufen, noch ein kleiner Schluck.

Die Laune des Staatsrats war einfach hervorragend.

Erst bei Tagesanbruch erreichte er Shitomir, auf dem Fuhrwerk eines Bauern, der ihn unterwegs aufgelesen hatte.

In seinem Zimmer wusch er sich und kleidete sich um. Dann kaufte er beim Nachtportier eine Flasche Portwein – Bückware, versteht sich – und machte sich damit ohne spürbaren Skrupel der Mittäterschaft bei einem Verstoß gegen das Gesetz zur Regelung des Weinhandels schuldig.

Die Hälfte von dem Wein süffelte er auf der Stelle aus – direkt aus der Flasche, wie er sich ’s neuerdings angewöhnt hatte. Verblüffenderweise wurde er davon nicht betrunken, sondern sein Kopf wurde, im Gegenteil, immer klarer.

Hinter den Fenstern brach der Tag an. Der Staatsanwalt saß in Hemdsärmeln und Hosenträgern auf seinem Bett, schlürfte genüsslich Portwein aus der Flasche und überdachte sein weiteres Vorgehen.

Es hatte vermutlich keinen Sinn, zur Polizei zu gehen, Tscharnokuzki würde natürlich seine Geheimsammlung im Laufe der Nacht entweder beiseite geschafft oder vielleicht sogar vernichtet haben (was hatte er dort wohl für ekliges Zeug?). Diesen Widerling würde er sich später gründlich vornehmen, aber dafür müsste er den Generalgouverneur in Kiew einschalten. Eine ziemlich umständliche und langwierige Angelegenheit, und wie das enden würde, war auch schon klar: nicht etwa im Straflager, sondern in einer komfortablen psychiatrischen Anstalt.

Jetzt aber gab es erst einmal Wichtigeres zu erledigen.

Punkt neun Uhr war Berditschewski beim Gefängniskomitee, wo er sich vom Inspektor ein Schreiben für den Aufseher der Gouvernements-Haftanstalt geben ließ.

Im Gefängnis hielt er sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern fragte sofort:

»Führen Sie ein Besucherverzeichnis?«

»Jawoll, Eure Hochwohlgeboren! Darin sind wir sehr genau. Jeder Besucher, wo da herkommt, das kann sein der Gouverneur persönlich, wird dort hineingeschrieben«, meldete der Diensthabende.

Das hätte ich als Allererstes tun müssen, tadelte sich Matwej Benzionowitsch. Anstatt in irgendwelchen Drecklöchern herumzustrampeln. Ein lausiger Schnüffler bin ich. Wahrlich keine Pelagia.

Er schlug das Register bei den Eintragungen für den neunzehnten November des vergangenen Jahres auf (dem Tag von Razewitschs Entlassung) und fuhr mit dem Finger von unten nach oben über die Kolonne mit den Besuchernamen.

Am 18. November hatte der Gefangene in der Zelle Nummer elf, der »Adelszelle«, keinen Besuch gehabt, obwohl es an diesem Tag insgesamt sechsundzwanzig Visiten gegeben hatte.

Am 17. November gab es zweiunddreißig Besucher, aber für Razewitsch wiederum niemanden.

16. November . . . Da, da war es!

In akkurater Schönschrift stand dort in der Spalte »Zu wem«: »In die 11 zu dem zahlungsunfähigen Schuldner Razewitsch«. Und daneben, in der Spalte »Unterschrift des Besuchers: Name, Familienname, Rang«, irgendetwas Unleserliches.