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Der Staatsanwalt trug den Folianten zum Fenster und hielt ihn ins Licht, kniff die Augen zusammen und versuchte, den offenbar sehr lässig hingeworfenen Schriftzug zu entziffern.

Und als die Buchstaben sich einer nach dem anderen zu einem Namen zusammensetzten, ließ Berditschewski das Buch auf das Fensterbrett fallen und blinzelte bestürzt.

XIII

Das Meer der Toten

Es kommt das Neueste Testament

Eintönig und ermüdend zog sich der Weg nach Bet-Kebir.

Der Jordan, ausgedörrt und bar jeder Pittoreske, war für die Pilgerin eine herbe Enttäuschung. Polina Andrejewna nahm es der Vorsehung geradezu persönlich übel, dass sie aus nicht nachvollziehbarem Grund das wichtigste Ereignis in der Menschheitsgeschichte an diesem kümmerlichen Rinnsal hatte stattfinden lassen, anstatt es, sagen wir, an die majestätischen Ufer ihres heimatlichen Wolgastromes zu verlegen, wo Himmel und Erde nicht wie hier von all dem Staub ständig die Augen zukneifen mussten, sondern sich frei und offen anblicken konnten.

Und als der Jordan schließlich ins Tote Meer floss, das auch »das Asphaltene« genannt wird, wurde das Bild noch dürftiger.

Zur Rechten erstreckten sich die kahlen Hügel der Judäischen Wüste, zur Linken erstreckte sich dunstverhangen der Wasserspiegel. Im ersten Moment schien es Pelagia, der ganze See sei mit einem dicken Panzer aus silbernem Eis überzogen, obwohl das natürlich bei dieser Hitze vollkommen undenkbar war. Die Nonne ging zum Ufer hinab und steckte die Hand ins Wasser. Sogar von nahem war die Illusion perfekt, aber ihre Hand stieß nicht auf eine kalte, harte Kruste, sondern tauchte in warmes, vollkommen klares Nass, unter dem eine dichte Schicht weißen Salzes lag. Polina Andrejewna leckte an ihrer Hand und kostete den Geschmack von Tränen.

Ihre Augen brannten. Der Meeresspiegel flimmerte grell, ebenso die gezackten Felsen, die Wüste und der Weg. Und niemals hatte Pelagia eine solche Stille erlebt. Der Sand rieselte nicht, das Wasser plätscherte nicht, und als Salach die Pferde angehalten hatte, um sie rasten zu lassen, wurde die Stille schier unerträglich. »Totenstille am Toten Meer«, dachte Pelagia, ohne so ein Wortspiel im Sinn gehabt zu haben.

Je näher sie dem südlichen Rand des Salzsees kamen, desto lebloser und unnatürlicher wurde die Umgebung. Scharfgezackte Felsen ragten bizarr aus dem Boden, es sah aus, als fletsche die Erde selbst grimmig die Zähne, und die Berge traten ganz dicht an die Ufer heran, als wollten sie das Fuhrwerk in die ätzende Salzlauge stoßen.

Polina Andrejewna wurde immer beklommener zumute; nicht wegen der Unwirtlichkeit der Landschaft, sondern weil sie daran denken musste, was für schreckliche Gräuel hier vor vielen Jahrhunderten geschehen waren.

Einst war dies ein blühendes Land gewesen, »vollständig bewässert . . . wie der Garten des Herrn, wie das Land Ägypten bis hin nach Zoar. Aber der Herr ließ im Zorn Schwefel und Feuer vom Himmel herab auf Sodom und Gomorrha regnen, und es entstand dieser riesige Trichter, angefüllt mit bitteren Tränen. Auf seinem Grund, unter einer dicken Schicht aus Sah, lagen Tausende von toten Frevlern und vielleicht auch einige Fromme. Denn bevor die furchtbare Strafe vollzogen wurde, ging Gott einen Handel mit Abraham ein. Da trat Abraham näher und fragte: ›Willst du wirklich Fromme und Frevler dahinraffen? Vielleicht sind fünfzig Fromme in der Stadt; willst du sie wirklich vertilgen ? Willst du dem Orte nicht lieber verzeihen um der fünfzig Frommen willen, die in der Stadt sind? Fern sei es von dir, also zu handeln, Fromme zusammen mit Frevlern zu töten! Dann müsste ja der Fromme gleich dem Frevler sein; das sei ferne von dir! Muss nicht der ganzen Welt Richter das tun, was recht ist?‹ Da antwortete der Herr: ›Wenn ich in Sodom fünfzig Fromme innerhalb der Stadt finde, so will ich dem ganzen Orte um ihretwillen vergebens Abraham entgegnete und sprach: ›Siehe, ich habe gewagt, zu meinem Herrn zu reden, wiewohl ich nur Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen an den fünfzig Frommen nur fünf. Willst du um dieser fünf willen die ganze Stadt vernichtend Er aber sagte: ›Nein, sofern ich dort fünfundvierzig finde. ‹ Er fuhr fort, mit ihm zu reden, und sprach: Vielleicht finden sich dort nur vierzig.‹ Er erwiderte: ›Ich will es nicht tun um dieser vierzig willens Darauf jener: ›Zürne doch nicht, mein Herr; wenn ich weiterrede! Vielleichtfinden sich dort nur dreißig.‹ Er sprach: ›Ich will es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde.‹ Da sagte er: ›Siehe doch, ich habe gewagt, zu meinem Herrn zu reden! Vielleicht finden sich dort nur zwanzig.‹ Er antwortete: ›Ich will nicht vernichten um der zwanzig willens Darauf jener: ›Zürne doch nicht, mein Herr; nur noch dieses Mal will ich reden! Vielleicht finden sich dort nur zehn!‹ Er sagte: ›Ich will nicht vernichten um der zehn willens Als er das Gespräch mit Abraham beendet hatte, ging der Herr hinweg.«

Pelagia fühlte mit ganzem Herzen mit Abraham, der, bebend vor Angst und Entsetzen, mit dem Allmächtigen um die Rettung des Landes von Sodom kämpfte. Doch Gottes Maß war strenger als das menschliche. Dostojewski verdarb eine einzige Kinderträne den Spaß an der Rettung der ganzen Welt, und dem Allmächtigen waren zehn Gerechte kaum genug, und dann war er sogar noch verärgert, brach das Gespräch mit Abraham einfach ab und ging weg. Was sollte man davon halten? Wahrscheinlich war Gott in diesen fernen Zeiten noch zu jung gewesen, und wenn man jung ist, ist man kompromisslos und grausam. Er besaß noch nicht die Geduld und Barmherzigkeit, die er später, im Neuen Testament, gelernt hatte . . .

Gott verändert sich, erkannte Pelagia auf einmal. ER wird mit den Jahrhunderten älter, milder und weiser, genau wie die Menschheit auch. Wenn es aber so ist, dann gibt es die begründete Hoffnung, dass irgendwann nach dem Neuen Testament das Neueste Testament zu uns kommen wird, ein Evangelium, das noch viel barmherziger und heiterer sein wird als das vorangegangene. Denn die Menschen und die Gesellschaft haben sich doch in den zweitausend Jahren so sehr verändert!

Und sie versuchte sich vorzustellen, wie Gottes Neuestes Testament wohl aussehen würde. Das Alte Testament handelte davon, wie ein Jude sich anderen Juden gegenüber zu verhalten habe. Das Neue Testament gebot, dass alle Menschen einander lieben sollen; und das Neueste Testament würde wahrscheinlich auch die Tiere in diese Liebe einbeziehen. Haben Pferde und Hunde etwa keine Seele? Doch, natürlich haben sie eine!

Es wäre prima, wenn das Neueste Testament den Menschen auch eine Hoffnung auf ein Glück in diesem Leben gäbe, und nicht erst nach dem Tod, im Himmelreich.

Und außerdem . . . Aber nein, was redete sie denn da! Was für ein Neuestes Testament? Das war doch wohl nicht ihre Sache! Musste nicht allein schon dieser Gedanke, das Neue Testament könne veraltet sein, eine Versuchung des Teufels sein, die ihr aus der toten Wüste gesandt wurde?

Sie schlugen ihr Lager in einer kleinen Oase auf, die aus einer Hand voll Bäumen bestand, die um eine Quelle herum wuchsen. Dies war schon die dritte Übernachtung, seitdem sie aus der Jesreelebene aufgebrochen waren.

Am anderen Morgen geschah ein Wunder. Salach, der vor zwei Jahren das letzte Mal durch diese Gegend gekommen war, staunte sogar noch mehr als Pelagia.

Der Hantur hatte gerade den Ort ihres nächtlichen Aufenthaltes in einer Staubwolke hinter sich gelassen, da kam aus der Judäischen Wüste eine pfeilgerade Chaussee hervorgekrochen, verschlang den armseligen Uferweg, auf dem sie daherkamen, mit einem Happs und bog nach Süden ab, in Richtung Meer. Salachs bejammernswerte Gäule wurden plötzlich putzmunter und ließen die Hufe eifrig über das Pflaster klackern. Das Rütteln und Schütteln der vergangenen Tage war vergessen, und der Hantur rollte jetzt mindestens zweimal so schnell dahin.

Polina Andrejewna kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.