»Was . . . was hast du ihm gesagt?«, fragte Pelagia ängstlich, als der Wachtposten hinter ihnen lag.
»Nun, hab ich gesagt, du bist Junge, der zieht sich an wie Weib, und die Luti haben dich gekauft in Jaffa. Hat Jüs-Baschi erst nich geglaubt. Ich sage: Du glaubst nich? Dann guck mal zwischen Beine. Und will Rock hochheben. Said-Bej natürlich guckt nicht Jungs zwischen Beine, sonst Soldaten denken, Jüs-Baschi ist auch Luti.«
»Und . . . und wenn er doch geguckt hätte?«, fragte Pelagia blass.
Salach zuckte gleichmütig mit den Achseln.
»Na ja, wäre schlecht. Aber hat ja nich geguckt, jetzt Wachtposten ist geschafft, und gibst du mir fünfundzwanzig Franken.«
Polina Andrejewnas Schulden bei ihrem Kutscher, Führer und Wohltäter waren seit dem Tag ihrer Abreise aus Jerusalem allmählich ins Astronomische angewachsen. Das Geld, das sie Fatima gegeben hatte, war nur der Anfang gewesen. Dazu kam jetzt noch die Entschädigung für die Angst, die er bei dem tscherkessischen Abenteuer hatte ausstehen müssen, dann das Honorar für die Reise zum Toten Meer und zusätzlich für die Strecke von Bet-Kebir nach Usdum. Unterwegs waren noch die einen oder anderen Kosten kleineren Umfangs angefallen, Pelagia wusste schon selber nicht mehr, was bisher unter dem Strich zusammenkam, und fürchtete langsam, dass sie diesen Blutsauger niemals würde auszahlen können.
Plötzlich bemerkte sie, dass er sie mit einem irgendwie seltsamen, geradezu erregten Gesichtsausdruck ansah.
»Was ist los?«, wunderte sich Polina Andrejewna.
»Du bist klug und tapfer«, sagte Salach emphatisch. »Zuerst ja dachte ich, was für eine hässliche Entelein. Haare rot und ganz mager. Aber gewöhnt man sich ja an rote Haar. Und wenn du sitzt zu Hause, viel schläft und gutes Essen, bald ja bist du nich mehr mager. Und mit bisschen Puder und Farbe in Gesicht bist du fast Schönheit. Weißt du was?« Seine Stimme bebte, die Augen glänzten feucht. »Komm zu mir, sei vierte Frau. Musst du auch nich Schulden zahlen.«
Das war ein Heiratsantrag, begriff Pelagia, und zu ihrer eigenen Verwunderung fühlte sie sich geschmeichelt.
»Ich danke dir«, antwortete sie. »Es ist nett, dass du so etwas sagst. Aber ich kann nicht deine Frau werden. Erstens habe ich einen Bräutigam, und zweitens, was soll denn Fatima dazu sagen?«
Das zweite Argument schien um einiges schwerer zu wiegen als das erste. Außerdem hatte Polina Andrejewna im Verlaufe ihrer Erläuterungen eine Feldflasche genommen und begonnen, die Farbe aus ihrem Gesicht zu wischen, wodurch sich ihre Schönheit in den Augen ihres Kutschers offensichtlich verflüchtigte.
Salach seufzte, ließ die Peitsche knallen, und der Hantur rollte weiter.
Der Berg endete in einer schroffen, fast senkrechten Stufe, und hinter einer Kurve tauchte ohne jede Vorwarnung die Stadt auf.
Sie lag in einer weiten, flachen Senke, die an drei Seiten von Hügeln umrahmt wurde, und war unbeschreiblich schön, so als hätte man sie direkt aus dem antiken Hellas hierher versetzt.
Polina Andrejewna wollte ihren Augen nicht trauen, als sie all die roten Ziegeldächer und statuengeschmückten Giebel, die symmetrischen Kolonnaden und prächtigen Marmorbrunnen sah. Die Stadt schien inmitten von blühenden Gärten in der heißen, flirrenden Luft zu schweben.
Eine Fata Morgana! Eine Fata Morgana in der Wüste, dachte die Reisende entzückt.
Sie kamen auf eine grüne Allee. Dort stand, neben großen Haufen fruchtbarer Schwarzerde, das Fuhrwerk von vorhin, noch nicht abgeladen. Der Fuhrmann war nirgends zu sehen, wahrscheinlich war er fortgegangen, um Anweisungen einzuholen. Einige Araber hoben Pflanzgruben für Bäume aus, gossen die Beete und schnitten das Gras.
»Das ist ja das reinste Elysium«, flüsterte Pelagia und atmete den Duft der Blumen ein.
Sie sprang vom Wagen herunter und trat hinter die Rosenbüsche, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Immer noch konnte sie sich an diesem wunderschönen Anblick nicht satt sehen.
Als die erste Begeisterung vorbei war, fragte sie:
»Aber wie komme ich in die Stadt?«
Salach zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß nich. Ich habe ja nur versprochen, dich am Posten vorbeizubringen.«
Der Tanz Irodiadas
Während sie über den Marmorfußboden dahinglitt, versuchte sie immer noch, die verklingende Melodie festzuhalten.
Padam-pam-pam, Padam-pam-pam, zweimal drehen, den Chiton aus durchsichtiger Gaze wie eine gewichtslose Wolke aufsteigen lassen, dann in einem anmutigen Knicks sich verneigen und auffliegen und schweben, und die Arme wie Schwanenflügel.
Früher hatte sie zum Grammofon getanzt, aber jetzt brauchte sie keine mechanische Musik mehr. In ihrem Inneren erklangen göttliche Melodien, wie sie nicht einmal Paganini hätte spielen können. Sie waren nur von kurzer Dauer, nicht zur Wiederholung bestimmt, und gerade deshalb besonders schön.
Heute aber war da irgendetwas, was die Musik störte, sie gleichsam erstickte, sodass sie ihre Zauberkraft nicht entfalten konnte.
Para-para-pam-pa-pam,para-para-pam-pa-pam . . . Nein, so nicht!
In ihrer gesegneten Oase, wohl behütet vor der groben Welt, hatte Irodiada zwei Quellen des täglichen Genusses in sich entdeckt, zwei neue Talente, von denen sie früher nicht einmal etwas geahnt hatte.
Das erste war der Tanz. Doch tanzte sie nicht für ihre Familie, auch nicht für die Gäste und schon gar nicht für Fremde, sondern einzig und allein für sich selbst. Sich ganz der Harmonie, der graziösen Bewegung hingeben, spüren, wie ihr Körper, der früher so unbotmäßig war, der knirschte und knarrte wie eine verrostete mechanische Maschine, auf einmal leicht wurde wie eine Daunenfeder und biegsam wie eine Schlange. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie in ihrem fünften Lebensjahrzehnt, da man gewöhnlich von seinem Fleische nur noch Enttäuschungen erwartet, überhaupt erst zu begreifen beginnt, was für ein vollkommener Organismus der Körper ist!
Im Haus herrschte Stille. Ljowuschka und Salomeja aalten sich im Schlafzimmer, sie würden erst gegen Abend aufstehen, wenn die Hitze nachließ. Antinuscha planschte natürlich wieder im Schwimmbecken herum, den bekam man nicht einmal mit einer ganzen Truppe von Treidlern aus dem Wasser gezogen.
Jeden Tag nach der Mittagsstunde, wenn alles ruhig war und sie nur sich selbst überlassen, tanzte Irodiada ganz allein vor dem Spiegel. Der elektrische Ventilator trieb Wellen aromatisierter Luft durch das Atrium, und die Tänzerin bewegte sich mit vollkommener Grazie, Schweißtropfen liefen über ihr Gesicht und trockneten sogleich wieder.
Eine halbe Stunde vollkommenen Glücks, anschließend eine wunderbare kalte Dusche nehmen, ein Glas geharzten Weines mit ein wenig Schnee trinken, sich einen Seidenchiton Überwerfen und dann ihrem zweiten Lieblingsvergnügen entgegenstreben, dem Garten.
Heute jedoch wollte es ihr partout nicht gelingen, sich ganz und gar der Bewegung hinzugeben, und in ihrem Kopf, in dem nichts anderes als Musik sein sollte, saß ein trüber, beunruhigender Gedanke und wedelte mit seinem Mauseschwanz.
». . . wird zugrunde gehen und erlöschen«, hörte Irodiada plötzlich eine undeutliche Stimme, und sie blieb stehen.
Ach, das war es.
Das gestrige Gespräch.
Sbyschek und Rafek, die beiden Wirrköpfe aus Warschau, hatten diesen seltsamen Menschen in die Stadt mitgebracht, einen Landstreicher in einem abgewetzten Kittel, der mit einem blauen Strick umgürtet war. Sie hatten ein Wagenrennen am Seeufer entlang veranstaltet und ihn dort auf der Chaussee aufgelesen, weil er sie durch sein Aussehen zum Lachen brachte. Als sie herausfanden, dass der Wanderer aus Russland kam, brachten sie ihn zu ihren russischen Freunden, um ihn vorzuzeigen.
Sie war allein zu Hause gewesen. Ljowuschka war bei einer Sitzung im Areopag, die Kinder waren am Strand.
Als der Zerlumpte sich als Manuila vorstellte, als Anführer der »Findelkinder«, musste die Hausherrin innerlich lachen. Der Arme hatte natürlich keine Ahnung davon, dass sie durch einen ulkigen Zufall über den Tod des echten Manuila Bescheid wusste, der, wie man getrost sagen kann, quasi direkt vor ihren Augen umgebracht worden war.