Irodiada hatte es nicht eilig, den Schwindel auffliegen zu lassen, sie wollte einen effektvollen Moment abwarten. Als die beiden Warschauer Taugenichtse sich aufmachten, um dem Vagabunden die Stadt zu zeigen, ging sie mit.
Der Pseudo-Manuila drehte unentwegt den Kopf nach allen Seiten, stieß Rufe des Erstaunens und der Bewunderung aus und hatte ständig irgendwelche Fragen. Weil Sbyschek und Rafek die ganze Zeit bloß herumgackerten und Quatsch machten, fiel die Rolle des Fremdenführers Irodiada zu.
»Und Frauen werden von Ihnen nicht akzeptiert?«, staunte der selbst ernannte Prophet.
»Wir akzeptieren und respektieren sie«, entgegnete Irodiada. »Am Westplatz haben wir sogar der Gemahlin Lots ein Denkmal errichtet. Wir haben nämlich am See einen großen Salzblock gefunden und haben dann von einem Bildhauer eine Statue daraus meißeln lassen. Ein paar hatten zwar etwas dagegen, eine nackte Frauenfigur in der Öffentlichkeit aufzustellen, aber die Mehrheit ist sehr tolerant. Wir haben nichts gegen Frauen, es geht uns nur besser ohne sie, und ihnen geht es besser ohne uns.«
»Und gibt es irgendwo auch eine Frauenstadt?«, fragte der falsche Manuila.
»Bis jetzt nicht«, erklärte Irodiada. »Aber es soll bald eine geben. Unser Wohltäter, George Cyrus, hatte ursprünglich den Plan, ein Stück Land auf der Insel Lesbos zu kaufen, aber die griechische Regierung hat es nicht genehmigt. Dann kam er auf die Idee, das alte Gomorrha wieder aufzubauen. Die Arbeiten haben schon begonnen. Wir werden uns ganz bestimmt gut mit unseren Nachbarinnen verstehen. Die Menschen verstehen sich ja auch mit den Delfinen, zum Beispiel, nur ist das Lebenselement der Delfine eben das Meer, das der Menschen aber das Land, aber letztendlich erwartet ja auch niemand, dass Menschen und Delfine Geschlechtsverkehr miteinander haben!«
Der amüsante Schwindler war vollkommen hingerissen von der Schönheit der Gebäude und von den zahlreichen, überaus beeindruckenden technischen Errungenschaften, die es in Sodom zu bestaunen gab: eine elektrische Straßenbahn, zum Beispiel, die von der Akropolis bis zum Strand fuhr, einen Kinematographen, eine Kunsteisbahn und vieles, vieles mehr.
Am meisten aber interessierte sich der Pseudoprophet für die Beziehungen der Einwohner untereinander. Gibt es bei Ihnen auch Familien, fragte er, oder lebt jeder für sich allein?
Irodiada, die sich schon auf den Moment der Entlarvung freute, antwortete ausgesucht höflich, es gebe nur wenige Familien im eigentlichen Sinne, mit Kindern usw., wie sie selber eine habe. Viele lebten mit einem festen Partner zusammen, die meisten aber genössen einfach die neue Freiheit und Sicherheit.
Dann drängelten Sbyschek und Rafek, man solle doch zusammen ins Labyrinth gehen. Das war so ein Ort, wo die Jugend sich im Dunkeln in allen möglichen Obszönitäten erging. Aber Irodiada lehnte ab, denn sie war aus dem Alter heraus, in dem der Mensch sich schmuddeligen Fleischeslüsten hingibt, heute legte sie größeren Wert auf die Gefühle. Zu ihrem Erstaunen wollte der Vagabund ebenfalls nicht ins Labyrinth, er sagte, diese Spielereien seien nichts Neues für ihn, das habe es schon bei den alten Griechen gegeben, und bei den Römern und Babyloniern auch.
So kam es, dass Irodiada plötzlich mit ihm allein war.
»Nun, Mann Gottes, wird der Herr uns für unsere Sünden wieder mit Feuer und Schwefel übergießen?«, fragte sie spöttisch und deutete mit dem Kopf zum Labyrinth, aus dem Gelächter und wildes Geschrei herüberklangen.
»Dafür wohl kaum«, sagte der »Prophet« und zuckte mit den Achseln. »Schließlich vergewaltigen sie sich ja nicht gegenseitig. Wenn es ihnen Freude bereitet, warum denn nicht? Die Freude ist heilig, der Kummer aber ist von Übel.«
»Gut gesagt, Prophet!«, amüsierte sich Irodiada. »Womöglich bist du ja am Ende einer von uns?«
Was hatte er noch geantwortet?
Nein, sagte er darauf, ich bin keiner von euch. Ihr tut mir Leid. Der Weg eines Mannes, der Männer liebt, ist kummervoll und führt ihn in die Verzweiflung, denn er ist unfruchtbar.
Er hatte es irgendwie anders ausgedrückt, umständlicher, aber das war ziemlich genau der Sinn seiner Worte gewesen, Irodiada hatte sich sogar richtig erschrocken und hatte noch versucht, einen Scherz zu machen:
»Unfruchtbar? Weil wir keine Kinder zur Welt bringen?«
Da sagte er ganz ernst: »Auch deshalb, aber nicht nur deshalb. Der Mann ist die dunkle Hälfte der Seele, die Frau die helle. Weißt du, wie eine neue Seele entsteht? Dadurch, dass sich vom göttlichen Feuer ein kleiner Funke löst. Und er löst sich, wenn die beiden Hälften der Seele, die helle und die dunkle, aufeinander stoßen und zu begreifen versuchen, ob sie ein Ganzes sind oder nicht. Ihr Bedauernswerten aber werdet niemals eure zweite Hälfte finden können, denn Dunkel und Dunkel kommen niemals zusammen. Deine Seelenhälfte wird zugrunde gehen und verlöschen. Das ist ein schweres Los, denn es bedeutet ewige Einsamkeit. Wie oft ihr auch aufeinander stoßt, es wird sich kein Funke lösen. Darin liegt das Unglück – nicht in der Sünde des Körpers, sondern in der Verirrung der Seele.«
Irodiada vergaß vollkommen, dass sie doch eigentlich den Selbsternannten hatte auslachen wollen. Was spielte es schon für eine Rolle, wer er in Wirklichkeit war? Der Vagabund hatte ausgesprochen, was sie selber fühlte, aber nie hatte in Worte fassen können.
Sie begann zu widersprechen.
Selbstverständlich ging es ganz und gar nicht um das Körperliche. Bei ihr war es so gewesen, dass sie die leidenschaftliche Vereinigung mit ihrem Geliebten gar nicht mehr so notwendig brauchte, nachdem der Reiz des Verbotenen erst einmal verschwunden war, und man sich nicht mehr vor der Gesellschaft verstecken musste. Viel wichtiger waren ihr jetzt die Zärtlichkeit und Geborgenheit, wie man sie mit einer Frau niemals erleben kann, weil Frauen nun einmal anders sind. Hier brauchte man sich nicht zu verstellen, man verstand einander ohne viele Worte, manchmal ohne ein einziges Wort – und darauf kam es an. Hier lebte man unter seinesgleichen, wo es den Konflikt der Gegensätze nicht gab und deshalb auch keine Zwietracht. Nur Frieden und Glückseligkeit.
So redete sie auf den fremden Menschen ein und ereiferte sich richtig dabei, denn seine Worte hatten sie bis ins Mark getroffen.
Er hörte ihr ganz ruhig zu, aber dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte: »Trotzdem gibt es keinen Funken, und wo es keinen Funken gibt, gibt es keinen Gott.«
Gestern hatte Irodiada ihm widersprochen und auf ihrer Meinung beharrt. Heute aber, als der falsche Manuila nicht mehr da war, gingen ihr seine Worte wieder durch den Kopf und vertrieben die Musik.
Neuerdings verbrachte Ljowuschka immer mehr Zeit mit Salomeja. Nein, sie war nicht eifersüchtig, überhaupt nicht, es war so, wie der Wanderer gesagt hatte: Sie hatte Angst vor der Einsamkeit. Auch Antinoi war kaum mehr zu Hause, er hatte neue Interessen, neue Freunde. Vielleicht waren sie für ihn auch mehr als Freunde . . .
Dabei war gerade erst ein Monat vergangen, seit sie hier, im Paradies der Männer, angekommen waren. In Sodom, sagte man, blieb eine Familie nicht lange zusammen. Aber was blieb dann?
Sehr viel, versuchte Irodiada sich Mut zuzusprechen. Ihr blieben immer noch der Tanz und der Garten.
Apropos Gärten.
Höchste Zeit, den Päonien und Mispeln einen Besuch abzustatten und einen Blick auf die Rosen zu werfen, ob Dshemal es nicht wieder übertrieben hat mit dem Gießen.
Irodiada verscheuchte die trüben Gedanken, warf einen spinnwebfeinen Chiton über und band die Haare mit einem blauen Band zusammen.
Die Sonne brannte immer noch erbarmungslos, aber von den Abarim-Bergen wehte schon ein kühler Wind herüber und kündigte die Abendfrische an.