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Das Revolutionäre besteht darin, dass Korowin seine Patienten nicht unter Verschluss hält, wie es seit alters in zivilisierten Ländern üblich ist, und dass sie sich völlig frei bewegen können, wie und wo es ihnen beliebt. Das verleiht der Menschenmenge auf den Straßen von Neu-Ararat etwas besonders Pikantes. Da muss man sich erst mal zurechtfinden: Wer von denen, die einem da begegnen, ist ein ganz normaler Mensch, der auf die Insel gekommen ist, um zu beten, seine Seele zu reinigen und heiliges Wasser zu trinken, und wer ist ein Narr und Korowins Patient?

Manchmal freilich braucht man sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Ich war zum Beispiel noch nicht einmal an Land gegangen, als sich mir eine überaus farbenprächtige Figur näherte. Stellen Sie sich vor: das Bärtchen zu einem Knoten gezwirbelt, den Schnurrbart völlig abrasiert, einen Schirm unter den Arm geklemmt (und ich erinnere daran, dass ein scheußlicher; kalter Regen niederging), eine Baskenmütze à la Doktor Faust auf dem Kopf und auf der langen Nase eine riesige Brille mit dicken violetten Gläsern.

Dieser Faust oder vielmehr Kapitän Fracasse fixierte mich mit einem überaus unverfrorenen Blick, drehte irgendwelche metallenen Hebel am Gestell seines Okulars und murmelte in höchst besorgtem Tonfalclass="underline" »Ei-ei-ei. Brustkorb – kalte Grau-Grün-Skala, Stirn – heiß, hochrot. Sehr, sehr gefährlich. Nehmen Sie sich in Acht vor Ihrem Verstand.« Dann wandte er sich an den Herrn, mit dem ich die Kabine geteilt hatte, einen fülligen Rechtsanwalt aus Moskau, um auch dem eine Frechheit an den Kopf zu werfen: »Sie haben eine braune Emanation, ausgehend von der linken Gehirnhälfte. Trinken Sie keinen Wein, und essen Sie nichts Fettes, andernfalls werden Sie Herrn Kondrati kennen lernen.« Der Advokat ist nicht zum ersten Mal in Ararat, er will sich an den frisch geräucherten Renken und dem Moosbeerensaft des Klosters gütlich tun, das heilige Magenwässerchen trinken und die frische Luft atmen. Das Hotel »Arche Noah« ist seine Empfehlung. Auf die seltsame Wahrsagung des violetten Fracasse reagierte mein Cicerone mit völligem Gleichmut, und er erklärte mir, wie es sich mit der psychiatrischen Heilanstalt verhielt, um dann hinzuzufügen: »Sie brauchen nicht zu erschrecken, Monsieur Lentotschkin, Gewalttäter gibt es bei Donat Sawwitsch nicht.«

Am selben Tag kam ich beim Mittagessen in der Speisewirtschaft »Alles vom Grill« mit einem interessanten Subjekt ins Gespräch, das ebenfalls etwas mit Korowins Heilanstalt zu tun hat. Sie kennen meine Theorie, dass es verlorene Zeit ist, den Organismus mit Kalorien zu stärken, ohne unterdessen Augen und Gehirn zu beschäftigen, weshalb ich einen gebratenen Zander verzehrte und dabei kein Auge von Ihrem Roman ließ. Plötzlich trat ein Mann von vornehmstem Äußeren an meinen Tisch und sagte: »Verzeihen Sie, mein Herr, dass ich Sie bei dem doppelten Vergnügen, leibliche wie geistige Nahrung aufzunehmen, unterbreche, doch ich habe auf dem Buchrücken den Namen des Autors gesehen. Sie lesen doch ein Werk von Herrn Dostojewski?« Die unverblümte Anrede wurde durch ein so freundliches, entwaffnendes Lächeln wettgemacht, dass es einfach unmöglich war, sich zu ärgern. »Ja«, erwiderte ich, »das ist der Roman ›Die Dämonen‹. Haben Sie ihn nicht gelesen?« Er fuhr zusammen und zuckte überaus spaßig mit der Wange. »Nein«, sagte er, »ich habe ihn nicht gelesen, aber viel darüber gehört. Hier auf der Insel gibt es eine Bibliothek und eine Buchhandlung, aber der Archimandrit billigt den Verkauf weltlicher Bücher nicht. Er hat natürlich auf seine Art völlig Recht, aber so haben wir hier einfach nicht genug gute Romane und neue Theaterstücke.«

Ein Wort gab das andere, und wir kamen ins Gespräch. Er setzte sich zu mir an den Tisch und erzählte mir bald die Geschichte seines Lebens, eine recht ungewöhnliche Geschichte. Er heißt Lew Nikolajewitsch und ist allem Anschein nach ein prächtiger Mensch, kann keiner Fliege etwas zuleide tun und spricht über niemanden schlecht. Ich selbst bin ja, wie Sie wissen, ganz anders und mag keine Fastenbrüder; doch dieser Lew Nikolajewitsch hat es mir irgendwie angetan.

Er kommt aus Sankt Petersburg und hat sogleich ehrlich zugegeben, dass er zuvor in Korowins Krankenhaus war – man hatte ihn nach entsetzlichen Erlebnissen, an die er sich überhaupt nicht erinnern kann, in äußerst schlechtem, beinahe unzurechnungsfähigem Zustand dort eingeliefert. Der Doktor sagt, es sei besser so, man solle Vergangenes nicht wieder aufrühren, sondern müsse das Leben neu anpacken. Jetzt ist Lew Nikolajewitsch vollkommen geheilt, aber er will nicht mehr weg von Kanaan. Er hat eine Zuneigung zu Korowin gefasst und fürchtet sich vor der Welt. So hat er es ausgedrückt: »Ich fürchte mich vor der Welt – ich will nicht von neuem scheitern. Hier ist es friedlich und ruhig, hier ist Gottes Schönheit, und alle Menschen sind sehr gut. Um in der großen Welt zu leben, braucht man Kraft – eine Kraft, mit der man die ganze Last der Welt auf sich nehmen kann, ohne niedergedrückt zu werden. Groß ist der; der mit Jesus sagen kann: ›Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.‹ Aber es steht auch geschrieben: ›Bürde einem Schwachen keine unzumutbaren Lasten auf.‹ Ich bin schwach, mir geht es besser hier auf der Insel.« Eine originelle Figur; dieser ehemalige Petersburger. Sie müssten sich einmal mit ihm unterhalten,, Sie beide würden Gefallen aneinander finden. Ich erzähle Ihnen deshalb von Lew Nikolajewitsch, weil Ihre »Dämonen« jetzt bei ihm sind. So werde ich nicht erfahren, wie Werchowenskis Verschwörung ausgegangen ist. Das ist natürlich bedauerlich, aber Lew Nikolajewitsch hat das Buch mit einem solchen Verlangen betrachtet – es war offensichtlich, dass er gerne darum gebeten hätte, sich aber nicht traute. Nun, da habe ich es ihm gegeben. Ohnehin habe ich jetzt keine Zeit, Romane zu lesen, ich wurde schließlich von der heiligen Inquisition als Exorzist hierher gesandt.

Denken Sie nur nicht, Scheich ul-Islam, dass ich hier lediglich in Restaurants und Kaffeestuben herumsitze oder nach Prinzessinnen Ausschau halte (du Schöne, wo bist du?). Ich bin immerhin schon auf ganz Kanaan herumgeklettert und habe die Nachbarinsel von allen Seiten mit dem Binokel inspiziert – beinahe wäre ich dabei aus dem Boot gefallen. Alle drei Eremiten habe ich gesehen, wie sie aus ihrer Höhle hervorkrochen und sich Bewegung verschafften. Sie gehen ganz gekrümmt und schleppen sich nur mit Mühe dahin – das sind keine Menschen, sondern Maulwürfe. Ich kann mich rühmen: Der Abt (er hat eine weiße Borte an seiner Kapuze) hat mich mit seiner allerheiligsten Aufmerksamkeit bedacht – er hat mit seinem Stock gedroht, ich solle nicht näher herankommen.

Ich habe herausgefunden, dass der Obermaulwurf Vater Israil heißt und eine höchst interessante Biografie hat. Vor seiner Mönchsweihe war er einer jener reichen Müßiggänger, die sich vor lauter Nichtstun und Blasiertheit irgendein Hobby zulegen, sich dieser Schrulle mit Leidenschaft widmen und dafür ihr ganzes Leben und ihr Vermögen hingeben. Dieser wählte ein gar nicht so seltenes, dafür aber über die Mafien zeitraubendes Steckenpferd – er sammelte Frauen, und er war darin so geschickt, dass ein gewisser Prorektor im Ruhestand, ein früherer Bekannter von mir, im Vergleich zu ihm als reinster Seraph erscheint. Die Wissbegierde dieses neuen Don Juans war dermaßen unersättlich, dass er angeblich einen geografischen Atlas der vergleichenden weiblichen Anatomie erstellte und sich zu diesem Zweck auf besondere Lustreisen durch verschiedene Länder begab, darunter so exotische wie Annam, das Königreich Hawaii oder Schwarzafrika. Und in unserem rechtgläubigen Vaterland ist erst gar nicht zu zählen, wie viele hochanständige Matronen er verführte, wie viele stolze Jungfrauen er verdarb, denn er verfügte über ein besonderes Talent, die Herzen der Frauen zu verzaubern. Dabei spielte wohl auch seine Reputation eine Rolle. Einen anderen Stutzer hätten die Damen wohl nicht einmal angesehen, doch kaum verbreitet sich die Kunde, jemand sei ein gefährlicher Verführer, suchen alle plötzlich etwas Anziehendes, ja Unwiderstehliches an ihm: die Augen oder die Hände, und wenn sich gar nichts Besonderes finden lässt, verleiht man ihm eine magnetische Aura.