»Wo muss man jetzt hier ziehen?«, erkundigte sich Lagrange beim Kapitän, der angesichts von so viel Organisationstalent erstarrt war.
Und alles ging gut, der Herr war gnädig, alle Matrosen legten sich mit ihrem ganzen Gewicht gemeinsam in die Trossen, der Bug des Schiffes wurde gewendet, und niemand ertrank.
***
Bevor sie auseinander gingen, als das Schiff bereits an der Anlegestelle von Neu-Ararat lag, hielt Bruder Jonas (so hieß der Kapitän) Felix Stanislawowitschs Hand noch lange in seiner eisernen Pranke.
»Geben Sie Ihren Dienst auf«, dröhnte Jonas, während er den Oberst mit seinen klaren blauen Augen, die sich in dem breiten, derben Gesicht erstaunlich ausnahmen, unverwandt anblickte. »Kommen Sie zu mir als Obermaat. Sie wären wahrhaftig ein guter Seemann. Hier auf dem Blauen Meer ist es sehr interessant, das haben Sie selbst erlebt. Und gleichzeitig können Sie Ihre Seele retten.«
»Vielleicht in Bezug auf die Damen an Bord«, überlegte der Polizeimeister, während er über seinen Schnurrbart strich, denn in dem Moment trat Natalja Henrichowna ans Fallreep, die eine strengere Miene aufgesetzt und das leichtsinnige Hütchen gegen ein schlichtes schwarzes Tuch eingetauscht hatte. Ein Gepäckträger schleppte einen ganzen Berg von Koffern, Reisetaschen und Schachteln hinter ihr her und brachte es fertig, diese ganze Cheops-Pyramide auf dem Kopf zu balancieren. Die Pilgerin blieb stehen, bekreuzigte sich und verbeugte sich tief vor der prächtigen Stadt – besser gesagt, vor ihrer erleuchteten Uferstraße, denn von Neu-Ararat selbst war nichts zu sehen, weil es bereits dunkel war. Das Schiff hatte einen halben Tag auf der Sandbank festgesteckt, als man auf einen Schlepper wartete, und die Insel daher mit großer Verspätung und erst nach Einbruch der Dunkelheit erreicht.
Lagrange verneigte sich galant vor der Gefährtin seines romantischen Abenteuers, aber diese war offenbar bereits so sehr auf Erleuchtung und Reinigung der Seele eingestellt, dass sie ihm nicht einmal den Kopf zuwandte, sondern einfach an ihm vorbeischritt.
Ach, die Frauen, lächelte Felix Stanislawowitsch, der genau wusste, wie segensreich die weibliche Psyche eingerichtet war, und das sehr schätzte.
»Gut, Vater, wir sehen uns, wenn ich zurückfahre. Ich nehme an, das wird in ein oder zwei Tagen sein, wohl kaum später. Was meinen Sie, wird sich das Wetter bis dahin beruhi . . .«Er drehte sich wieder zum Kapitän um, sprach aber nicht weiter, weil Bruder Jonas irgendwohin zur Seite blickte und sein Gesicht verblüffend verwandelt war: Es war gleichzeitig entzückt und bestürzt, als höre der wackere Kapitän den unheilvollen Gesang der Sirenen oder als erblicke er eine über das Wasser wandelnde Jungfrau, was Seefahrern Erfolg verheißt und sie allen Kummer vergessen lässt.
Lagrange folgte der Blickrichtung des seltsam verstummten Kapitäns und entdeckte in der Tat eine geschmeidige, mädchenhafte Silhouette, die aber nicht über schaumbedeckte Wellenkämme glitt, sondern reglos unter einer Laterne am Anleger stand. Die junge Dame winkte Jonas gebieterisch mit dem Finger heran, und mit somnambulen Gang schritt dieser zum Fallreep, ohne sich noch einmal nach seinem künftigen Obermaat umzusehen.
Felix Stanislawowitsch, seinem Charakter und seinem Amt nach ein neugieriger Mensch und zudem als feurige Natur nicht unempfindlich gegenüber weiblicher Schönheit, packte seine gelbe Reisetasche aus patentiertem Schweinsleder, um sich dem Kapitän verstohlen an die Fersen zu heften, oder vielmehr, wie es die Seeleute ausdrücken, in seinem Kielwasser zu segeln. Instinkt und Erfahrung sagten dem Oberst, dass die junge Dame mit der wunderbaren Figur und der selbstbewussten Haltung bestimmt ein schönes Gesicht hatte. Er musste sich einfach Gewissheit verschaffen!
»Guten Tag, Lidia Jewgenjewna«, brummte Jonas schüchtern, während er auf die Unbekannte zuging.
Diese streckte ihm herrisch ihre in einen langen, grauen Handschuh gehüllte Hand hin – doch wie sich herausstellte nicht zum Kuss, und auch nicht, um ihm die Hand zu schütteln.
»Haben Sie es mitgebracht?«
Der Kapitan zog etwas ganz Kleines aus seiner Mönchskutte hervor und legte es in die schmale Hand, doch was genau es war, konnte der Oberst nicht sehen, weil die junge Dame ihm in diesem Moment den Kopf zuwandte und mit einer raschen Bewegung ihren Schleier ein wenig lüftete – offensichtlich, um den Unbekannten besser betrachten zu können. Dafür reichten ihr zwei, höchstens drei Sekunden, aber dieser flüchtige Augenblick war für Lagrange genug, um zu erstarren.
Oho!
Der Polizeimeister griff sich mit der Hand an seinen engen Kragen. Diese großen, unergründlichen, seltsam flimmernden Augen! Diese ausgeprägten Wangenknochen! Die geschwungenen Wimpern! Der traurige Schatten auf den wehrlosen Lippen! Zum Teufel auch!
Mit der Schulter stieß Lagrange Bruder Jonas, der wie ein Auerochse dastand, beiseite und lüpfte seine Schirmmütze.
»Gnädige Frau, ich bin zum ersten Mal hier, ich kenne niemanden und weiß nichts von der Stadt. Ich möchte mich vor den Heiligtümern verneigen. Helfen Sie einem Mann, der viel und schwer gelitten hat. Raten Sie dem reuigsten aller Sünder, wohin er seine Schritte zuerst lenken soll. Zum Kloster? Zur Wassilisk-Einsiedelei? Oder vielleicht in eine Kirche? Im Übrigen, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Felix Stanislawowitsch Lagrange, Oberst, vormals Kavallerist.«
Das Gesicht der Schönen war bereits wieder von dem federleichten Schleier verhüllt, doch unter dessen Rand war zu sehen, wie sich der reizende Mund zu einer geringschätzigen Grimasse verzog.
Die junge Dame, die der Kapitän mit Lidia Jewgenjewna angesprochen hatte, schenkte der raffinierten, psychologisch untadeligen Approche des Polizeimeisters keinerlei Beachtung, verbarg das kleine Etwas in ihrem Ridikül, wandte sich gräziös um und ging von dannen.
Bruder Jonas stieß einen tiefen Seufzer aus, und Lagrange fing an zu blinzeln. Das war unerhört! Zuerst hatte ihn die Petersburger Ziege nicht einmal einer Verabschiedung gewürdigt, und jetzt auch noch diese Erniedrigung!
Beunruhigt zog der Oberst einen praktischen kleinen Spiegel aus der Westentasche, um zu prüfen, ob vielleicht mit seinem Gesicht etwas nicht in Ordnung sei – ein plötzliches nervöses Ekzem etwa, ein Pickel oder, Gott bewahre, ein Popel, der ihm aus der Nase hing? Doch nein, sein Äußeres – das männliche Kinn, der energische Mund, der prächtige Schnurrbart und die ebenmäßige, vollkommen saubere Nase – war so schön und angenehm anzusehen wie immer.
Ein Idiot mit Baskenmütze, nicht besonders groß, aber mit einer riesigen dunklen Brille, verdarb dem Oberst endgültig die Laune. Der Mann versperrte Lagrange den Weg, hantierte aus irgendeinem Grund an der Fassung seiner Clown-Brille und brummte dazu:
»Vielleicht dieser hier? Rot – das ist gut, das ist möglich. Aber der Kopf! Himbeerrot! Nein, nicht geeignet!« Und dann überschritt er vollends die Grenzen anständigen Benehmens, indem er erbost mit den Armen vor dem Oberst herumfuchtelte. »Gehen Sie, gehen Sie! Was stehen Sie hier herum? Eine Eiche? Eine Stirn aus Gusseisen!«
Was für ein Städtchen!
***
Die »Arche Noah«, über die Felix Stanislawowitsch vom Bischof gehört hatte, war abgesehen von den Preisen in jeder Hinsicht ein gutes Hotel. Wo gibt es denn so etwas – sechs Rubel für ein Zimmer? Der Oberst hatte selbstredend eine gewisse Summe aus der persönlichen Schatulle des Bischofs erhalten, die zur Bezahlung selbst einer so verschwenderischen Unterkunft völlig ausgereicht hätte, doch der Polizeimeister legte die Findigkeit an den Tag, die ihm überhaupt in höchstem Maße eigen war: Er schrieb sich im Gästebuch des Hotels ein und bekundete die feste Absicht, das Zimmer für mindestens drei Tage zu mieten, blieb aber dann unter dem Vorwand, die Aussicht gefalle ihm nicht, doch nicht in der »Arche«, sondern suchte sich ein günstigeres Obdach. Das Hotel »Zuflucht der Demütigen« verlangte von den Gästen nur einen Rubel pro Zimmer, das heißt, es blieben fünf Rubel Reinerlös pro Tag. Vater Mitrofani gehörte nicht zu denen, die sich mit Kleinigkeiten aufhalten, und sollte eines Tages der Revisor des Konsistoriums seine Nase in die Abrechnung stecken, dann bitte sehr, hier haben Sie den Beweis – F. S. Lagrange hat sich im Gästebuch der »Arche Noah« eingetragen, und alles Übrige sind alberne Mutmaßungen.